: Was Zuhause ist
Es muss kein Ort sein, Zuhause kann ein Gefühl sein. Kann man es mitnehmen? Neu entwickeln, nachdem es zerstört wurde? Kann man es in anderen Menschen finden? Wir haben vier Lyriker:innen gefragt, was Zuhause für sie bedeutet. Sie mussten ihre Heimat in Afghanistan, Kurdistan, Syrien und Uganda verlassen und leben jetzt in Deutschland. Ihre Gedichte sind mit denen von 15 weiteren geflüchteten Dichter:innen in den taz-Sonderausgaben zu Flucht und Migration erschienen. Auch in dieser Ausgabe.Sie haben uns auch erzählt, worum sie Deutschland bitten würden, hätten sie zu Weihnachten einen Wunsch frei, jeweils in einem Wort: Zugehörigkeit, Anerkennung, Respekt, Gleichberechtigung, Aufgeschlossenheit, Sicherheit, Gewissen, Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und ein Gedicht. Das waren ihre Antworten. Wenn wir es schaffen, ihnen diese Wünsche zu erfüllen, wird ihre neue Heimat vielleicht ein bisschen mehr zu einem Zuhause. Alice von Lenthe
Von Parwana Amiri
Zuhause ist ein Ort, an dem ich keine Minderheit bin und an dem Sicherheit nicht an meiner Wohnungstür endet. Es ist eine Gesellschaft, in der ich abends ohne Angst hinausgehen kann und in der der Aufstieg rechter Ideologen nicht meine Existenz bedroht.
Zuhause ist dort, wo niemand fragt, warum ich hier bin, ob ich „wirklich“ eine Geflüchtete bin und wo ich mich nicht immer wieder für mein Bleiberecht erklären muss.
Zuhause ist dort, wo es keine irritierten Blicke gibt, wenn ich mit meiner Mutter Dari spreche, und niemand sagt: „Hier ist Deutschland, du musst Deutsch sprechen.“ Es ist ein Ort, an dem meine Erfolge gesehen werden und an dem mein Hidschab nicht als Symbol der Unterdrückung verstanden wird, sondern als Ausdruck meiner Freiheit, meines Rechts, meinen Körper so zu zeigen, wie ich es möchte.
Für mich war Zuhause vieles: vor vier Jahren ein Zelt, vor drei Jahren ein Container und heute eine alte Wohnung, deren Wände wir selbst gestrichen haben. Zuhause ist nicht der physische Ort, an dem ich wohne, sondern der Frieden, den ich dort spüre.
Zuhause ist dort, wo ich keine Angst um meine Zukunft haben muss, wo ich nicht jeden Tag fürchten muss, abgeschoben zu werden. Es ist der Ort, an dem ich die gleichen Chancen habe wie alle anderen – wo Wissen mehr zählt als Herkunft. Wo meine afghanische Nachbarin nicht den Namen ihrer Tochter ändern muss, nur damit sie im Berufsleben nicht benachteiligt werden könnte.
Zuhause ist ein Ort, an dem Menschen mehr bedeuten als nur ihre Geschichte und an dem sie nicht für ein gerechtes System auf die Straße gehen müssen. Zuhause ist dort, wo Minderheiten selbst sprechen, statt ständig nur zum Gesprächsthema gemacht zu werden. Wo ich nur Parwana bin.
Parwana Amiri stammt aus der afghanischen Provinz Herat, wo sie 2004 geboren wurde. 2018 musste sie mit ihren Eltern und Geschwistern vor den Taliban fliehen. Die Familie strandete auf Lesbos im berüchtigten Flüchtlingslager Moria. Dort begann Amiri via Social Media auf die Situation im Lager aufmerksam zu machen. Und sie begann zu schreiben. 2022 kam sie nach Deutschland, wo sie heute als Dichterin und Aktivistin lebt.
Von Sozdar Jafarzadeh
Man denkt über eine Sache oft erst dann richtig nach, wenn man von außen dazu gedrängt wird. Wenn ein Wort plötzlich schwerer wird, weil andere ihm Gewicht geben. So auch das Wort Zuhause. Während die einen freundlich, fast neugierig fragen, wo denn mein Zuhause sei, wo ich mich heimisch fühle, sagen andere mit erstaunlicher Sicherheit, ich solle doch „zurück nach Hause gehen“.
Zurück. Nach Hause. „Dorthin, wo du wirklich herkommst.“ Dieses „wirklich“ sticht. Es klingt wie ein Urteil, das längst gefällt wurde, bevor ich überhaupt sprechen konnte.
Für einen Moment fühle ich mich ertappt. Ich frage mich, warum ich nicht weiß, von welchem Zuhause sie sprechen. Warum sie so überzeugt davon sind, während ich mich selbst immer wieder suchend im Kreis drehe. Ich zerbreche mir den Kopf darüber, was mein Zuhause eigentlich sein soll, wo es liegt. Wenn doch andere es anscheinend besser wissen als ich.
Und doch bleibt eine Frage offen, beharrlich: Warum muss ich mich überhaupt für ein Zuhause entscheiden?
Ob mein Zuhause Kurdistan ist, wo ich „wirklich“ herkomme.
Oder Deutschland, wo ich nicht so recht ins Stadtbild zu passen scheine.
Oder Berlin, wo ich lebe, studiere und arbeite und für andere exotisch wirke.
Oder vielleicht doch das Haus meiner Eltern in Niedersachsen, wo ich meine Kindheit verbracht habe.
Oder das Café nebenan, in dem mein Name beim dritten Besuch endlich richtig ausgesprochen wird.
Muss mein Zuhause überhaupt ein Ort, ein Haus, ein Apartment, ein Zimmer sein?
Kann ich nicht mehrere Zuhause haben – gleichzeitig, nebeneinander, übereinander, mal mit großer Sehnsucht, mal mit weniger? Mal allein, mal mit vielen Menschen um mich herum? Mal in meiner Sprache, mal still?
Warum sollte mein Zuhause nicht all das sein, was in meinem Herzen liegt, was mich hält und glücklich macht – in verschiedenen Sprachen, an verschiedenen Orten, in verschiedenen Momenten und mit verschiedenen Menschen? Grenzenlos und frei. Denn genau dort komme ich „wirklich“ her.
Sozdar Jafarzadeh,35, kommt aus der kurdischen Stadt Êlih in der Südosttürkei. Die Sozialpädagogin arbeitet als Koordinatorin für ambulante Hilfen zur Erziehung beim Träger Yekmal e. V. Außerdem schreibt sie gerade an einer Kinderbuchreihe, in der die Biografien kurdischer Frauen vorgestellt werden.
Von Ali Alzaeem
Was ist ein Zuhause?
Ist es ein Ort auf der Landkarte, ein Dach über dem Kopf – oder ein leiser Funke im Inneren, der uns daran erinnert, wer wir sind? In einer Welt, die schneller rennt als unser Atem, in der Konkurrenz zur zweiten Natur wird und soziale Schichten wie unsichtbare Mauern zwischen den Menschen wachsen, verliert das Zuhause seine Form.
Es ist nicht mehr Sicherheit, nicht Stabilität, nicht einmal Heimat. Denn Heimat ist ein wanderndes Wort; sie war gestern anders, sie wird morgen anders sein.
Wenn ich sage: Meine Kindheit war mein Zuhause, berühre ich nur den Schatten einer vergangenen Unschuld. Und wenn ich sage: Meine Jugend war mein Zuhause, öffne ich die Tür zu Jahren voller Fragen, voller verborgener Narben.
Die Orte wechseln ihre Gesichter, die Zeit zieht uns fort wie ein starker Fluss, doch der Mensch trägt seine Prüfungen immer mit sich – das Leiden, das ihn formt, egal wo er steht. Aber über all diesem Wandel liegt etwas, das nicht vergeht: die Liebe.
Die Liebe ist das einzige Zuhause, das nicht zerfällt. Ein Zuhause ohne Mauern, aber mit Tiefe; ohne Grenzen, aber mit Richtung; ohne Besitz, aber voller Zugehörigkeit.
Sie ist der Ort, an den wir zurückkehren, wenn die Welt uns müde macht. Der Ort, an dem wir uns selbst begegnen, als würden wir zum ersten Mal atmen.
Die Liebe ist Erinnerung und Zukunft zugleich – die leise Wahrheit, die uns menschlich macht und die Freiheit, die uns weit über uns selbst hinausführt.
Ali Alzaeem, 26, ist im syrischen Idlib aufgewachsen. Mit 10 Jahren hat er sein erstes Gedicht geschrieben. Im Sommer 2015 kam er mit seiner Familie nach Deutschland. Er hat in Berlin Logistik studiert und arbeitet mittlerweile als Referent für Digitalisierung in der Energiebranche. Nebenbei leitet er Workshops für kreatives Schreiben.
Von Stella Nyanzi
Zuhause war einmal das Haus, in dem ich lebte, eine Zahnbürste hatte, Handtücher im Bad, Pyjamas und Schlappen im Schlafzimmer, einen Stuhl am Esstisch mit der Familie, einen Platz auf dem Sofa im Wohnzimmer und einen Haushalt, um den ich mich kümmerte. Aber Zuhause hat sich vielmals verschoben, gleichmäßig aufgelöst und ist für mich im Ungreifbaren wieder aufgetaucht.
Zuhause ist das Lachen meiner drei Kinder im Hintergrund, während ich versuche, einen weiteren Absatz zu schreiben. Manchmal sind es ihre Streitereien, während Musik um uns herum schallt.
Zuhause ist schwarzer Tee mit reichlich Kuhmilch und zwei gehäuften Esslöffeln Zucker, ohne dass jemand zusammenzuckt oder abfällige Bemerkungen über Erwachsene macht, die Milch konsumieren. Das Gefühl, nicht verurteilt zu werden, wird besiegelt vom lauten Geräusch des Löffels, der auf dem Grund der Tasse Zucker rührt.
Zuhause ist das kleine weiße Mädchen in Hiddensee, das sich von seiner Mutter abwandte, nachdem es mich auf einer Bank angestarrt hatte, direkt auf mich zuging und schüchtern ansah, seine weichen, pummeligen Finger ausstrecke, um mein schwarzes Knie zu streicheln, und dann sein eigenes. Verwirrt fragte es: „Es färbt gar nicht auf mich ab, oder?“
Zuhause ist ein improvisiertes Call-and-Response-Gedicht, bei dem das Publikum spontan und ohne meine Aufforderung einsteigt. Es rhythmisch zum Beat einer Liveband tanzt. Das Publikum in Deutschland kann so steif und formelhaft sein wie Pi r hoch zwei.
Zuhause ist ein Radler im Sommer im Biergarten. Es ist die Ehrlichkeit eines deutschen Radfahrers, der mich mit „Scheiße!“ beschimpft, wenn ich auf dem Radweg über die rote Ampel fahre. Es ist der DB-Ticketkontrolleur, der feststellt, dass meine Bahncard 50 abgelaufen ist, und hilft, mein Abo zu verlängern, anstatt mir eine saftige Strafe zu geben.
Zuhause ist, wenn ich meine Bücher auspacke und ins Regal stelle. Mit meinen Büchern markiere ich mein Revier – egal wie oft ich umziehe. Selbst im Hochsicherheitsgefängnis hatte ich eine Ecke mit meinen wenigen Büchern.
Zuhause ist, wenn ich die Topfpflanzen meiner Tochter auf der Fensterbank gieße. Manchmal gibt es viele Töpfe mit verschiedenen gesunden Pflanzen. Manchmal fängt der Garten gerade erst wieder an zu wachsen, weil wir über Grenzen flohen, um ein neues, sicheres Zuhause zu finden.
Stella Nyanzi wurde 1974 im ugandischen Masaka geboren und ist Gender-Forscherin und Dichterin. Im Streit über Hygieneprodukte an Schulen nannte sie 2017 Ugandas Präsidenten „Arschbacke“ – und wurde inhaftiert. Sie floh 2022 nach Deutschland.
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