Was Sommerhits ausmacht: Songs wie Eiswürfel im Glas

Heimtückisch nisten sie sich im Gedächtnis ein, sie sind so einzigartig wie auswechselbar. Über das widersprüchliche Wesen von Sommerhits.

Klammheimlich haben sich die Songs von Khruangbin zu Sommerhits entwickelt Foto: Tamsin Isaacs

Mit Österreich als Erstes den Ins­trumental-Song „Popcorn“ zu assoziieren, mag exotisch anmuten. Komponiert wurde er von Gershon Kingsley: Seine ultraeingängige Melodie ist von einem Synthesizer als Leadins­trument gespielt und wird endlos wiederholt: Didididi Dadada, Didididi Dadada, die wurmfortsatzartige Strophe erinnert an einen Bachchoral. Kingsley, dem mit seiner Familie aus Deutschland vor den Nazis geflohenen Juden, war als early adopter des Moog-Synthesizers mit „Popcorn“ nicht nur ein elegantes und zugleich quirliges Instrumental gelungen.

Seine Komposition wurde zum Sommerhit, ein Welterfolg, den Kingsley selbst verflucht hat, spätestens dann, als „Popcorn“ auch zur Untermalung der Lottozahlen und Skigymnastik im Fernsehen als Erkennungsmelodie herhielt. Es hat nichts genutzt, Kingsleys Karriere blieb auf ewig mit diesem Lied verbunden. Obwohl bereits 1969 entstanden, wurde „Popcorn“ erst im August 1972 zum Hit und hat sich in vielen Ländern auf der Welt über Wochen, ja Monate ganz vorne in den Charts platziert: In Deutschland blieb der Song allein 22 Wochen in der Hitparade, davon 8 auf Platz eins. Dididi Dadada, Dididi Dadada.

Auch der damals fünfjährige Autor dieser Zeilen schlich durch den Speisesaal eines Hotels im österreichischen Bundesland Kärnten, vorbei am scheelen Blick des Schankwirts, warf Münzen in die Jukebox, damit er „Popcorn“ hören konnte. Immer und immer wieder. Didididi Dadada, Dididi Dadada. „Popcorn“ war der erste Ohrwurm, der sich eingenistet hat im Gedächtnis. Eine Heimsuchung, weit jenseits von Überdruss schwebte das Lied morgens beim Aufwachen auf den Lippen, blieb den Tag über und platzte mit seiner kurvenreichen Melodie auch späterhin in Situationen: Dididi Dadada, Dididi Dadada.

Ein Monsterhit mit einer Monsterhookline, der sogar als Soundtrack der Münchner Sommerolympiade 1972 diente. Genau wie die modernistische Stadionarchitektur und das Buchstaben- und Zahlendesign des Gestalters Ottl Aicher, was alle Gebäude im Münchner Olympiagelände ziert, verkündet „Popcorn“ vom Heraufziehen einer neuen Ära.

Mit Marx über Hits nachdenken

Der französische Philosoph und Musikwissenschaftler Peter Szendy hat dem Phänomen des Ohrwurms ein Buch gewidmet. In „Tubes, Hits, Ohrwürmer. Die Philosophie der Jukebox“ denkt er mit Marx darüber nach, wieso uns gewisse Songs über Jahrzehnte verfolgen. Szendy glaubt, dass Hits immer auch ihrem Format huldigen, ihrer Produktionsweise und so dem „Geheimnis der Ware“ näherkommen.

Szendy tauft Hits „musikalische Gespenster“. Nach Marx sind in ihnen „bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse der Menschen selbst“ eingeschlossen und Szendy folgert: „Was man das musikalische Ich nennen könnte, wäre demnach nichts anderes als die Stimme der Ware, wie sie über sich selbst spricht.“

Wenn wir „Popcorn“ hören, gibt es somit auch Auskunft über seine charakteristische Produktionsweise. Gershon Kingsley gelang mit „Popcorn“ ein Novelty-Hit, einer der ersten Synthesizersongs, der in verschiedenen Versionen in die Hitparaden kam. Was fast 20 Jahre später erst Standard wurde, diese Chance hat Kingsley vor allen anderen ergriffen. „Popcorn“ suggeriert mit seiner elektronischen Machart Bewegung, kinetische Energie, was Szendy als das gespensterhafte Kommen und Gehen eines Ohrwurms beschreibt, die Melodie belagert die HörerInnen, „sie unterbricht den Strom unseres Lebens“.

„Popcorn“ suggeriert mit seiner elektronischen Machart Bewegung und kinetische Energie

Für Szendy fallen in Hits scheinbar widersprüchliche Eigenschaften zusammen: das Einzigartige und das Klischee, das Unvergleichliche und das Auswechselbare, die Seele und der Musikmarkt. „Während man beim Zuhören nichts mehr von ihnen erwartet, stöbern sie auf einmal das Geheimste in uns auf: einen vergangenen Moment, einen wertvollen Augenblick, ein Gefühl oder einen schändlichen Trieb.“

„Sweetest Girl“ im Sommer 1981

Hits hat der britische Musiker Green Gartside mit seiner Band Scritti Politti auch komponiert. Anders als Gershon Kingsley, der vor seiner Phase als Hitlieferant Soundtracks und Begleitung von Musicals schuf, kommt Gartside aus der Punk- und Hausbesetzerszene und brachte sich das Musikmachen selbst bei. Angefangen mit dem discoiden Popreggae-Hybrid „The Sweetest Girl“, das im Sommer 1981 über mehrere Wochen in den britischen Charts platziert war.

Seine impressionistische Pianomelodie (gespielt von Robert Wyatt) und das freundliche Plätschern des Reggaebeats begleiten Gartsides kunstvolles Gesangsarrangement. Kommerzielle Erfolge waren Scritti Politti zwischen 1982 und 1991 mit Stargästen, Studiomuckern und Majorlabel-Budgets beschieden, so dass Gartside mit Dernier-crie-Equipment experimentieren konnte, aber gleichzeitig nach vorne in die Charts kam.

Green Gartsides Beitrag zum Thema Sommerhits klingt geisterhaft, traumwandlerisch Foto: Tom Sheehan

Seine markante, knabenhafte Stimme und der hohe Reflexionsgrad seiner assoziativen Texte, die das Künstliche der Pop-Inszenierung, aber auch die Widersprüche der Künstlerkarriere ausstellen, sind gerade wegen ihres verspielten Charakters einprägsam.

Peter Szendy erkennt in Ohrwürmern vor allem den „Tausch-Effekt“: „Dieser Hit, der sich in zig Exemplaren selbst wieder zeugt und auf dem Weltmarkt der Musik-Waren vermehrt […], aber auch in jedem von uns.“ Was Scritti Politti angeht, denkt Green Gartside seine eigene Vermarktbarkeit und Verwundbarkeit und sich selbst als Hörer gleich mit.

Ausnahmezustand der Gegenwart

Dass er sich in diesem Sommer mit einer neuen Single zurückmeldet, ist ein schöner Nebeneffekt einer Karriere, die mal im Herzen des Mainstreams, aber immer wieder auch weit davon entfernt stattgefunden hat. Auf seiner neuen Single erinnert sich Gartside an eine Heldin seiner Jugend: die Folksängerin Anne Briggs, von der er zwei Songs covert.

Hot Butter: „Popcorn“ (Musicor)

Green Garside: „Tangled Man“ (Rough Trade)

Kruanghbin: „Mordechai“ (Dead Oceans/Cargo)

Die archaische Ballade des Originals „Tangled Man“ wird in seinem Arrangement zum geisterhaften, traumwandlerischen Ambientpopsong, dessen Refrain „I’m a Tangled Man in a tangled time“ wie ein Hit sofort im Gedächtnis bleibt und an den Ausnahmezustand der Gegenwart erinnert. Auch mit der B-Seite, „Wishing“ eignet sich Gartside furchtlos Folkelemente an und wirft sie in den Teilchenbeschleuniger, so dass seine akustische Gitarre mit einem Trapbeat ringen muss.

Was Szendy als „das Eigentliche“ in der Musik ausmacht, lässt sich auch bei Gartside beobachten: „die Kraft, sich ein- und auszuklinken, da und wieder fort zu sein, die musikalische Störungen und Unterbrechungen so explosiv und heftig macht“. Hits und ihre Promotion unterliegen strengem Timing und ausgefuchsten Businessplänen. Wie Musik veröffentlicht wird, welche Clips und Snippets davon im Netz auftauchen, wann Radio und Presse berichten, muss nicht zwangsläufig dazu führen, „das jeder Pisspott-Barde augenblicklich als Messias begrüßt wird“ (Nik Cohn).

Wer’s nicht glaubt, soll „Sommerhit 2020“ in die Suchmaschinen eingeben und sich durch den Midtempo-Müll hören, der einem da mit Karambo, Karacho und Olé untergejubelt wird. Klingt, wie abgestandene Limonade ohne Kohlensäure in praller Sonne schmeckt.

Melodien sind besitzergreifend

Im Schatten ist es eh kühler und da sind die Songs des texanischen Trios Khruangbin angesiedelt, die sich in den letzten Wochen klammheimlich zu Sommerhits entwickelt haben. Trippelnde, groovende und schmachtende funky Kleinode, die wie Eiswürfel im Glas klimpern, langsam schmelzen, aber zuvor immer knapp oberhalb der Lethargie seufzen. Das haben die MusikerInnen in den zehn Songs auf ihrem neuen Album „Mordechai“ umsichtig inszeniert.

Kleine und kleinste Details zeitigen hier drastische Ergebnisse. Etwa der zärtliche Einsatz einer Kuhglocke in dem dubbigen Song „One to Remember“, die damit das Zähe der Wiederholung ausstellt, das einem beim Hören dieser soften Downtempo-Songs erst ermattet und dann lähmt.

Peter Szendy schreibt, Melodien seien besitzergreifend. Angesichts des feenhaften Gesangs von Khruangbin-Bassistin Laura Lee Ochoa ist das noch untertrieben. „Und doch haust das Einzigartige […] in der melodischen Besessenheit dieser ewig gleichen Schleife: Da, wo irgendwo ein Ort ohne Ort ist, schlummern die Reserven eines Exzesses in mir, der jedoch nicht mir gehört.“ Dididi Dadada.

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