Wandern in Berlin: Wie Wandern heute wieder geht
Wandern wurde seit seiner Erfindung vor etwa 200 Jahren als Metapher missbraucht und politisch vereinnahmt. Umso dringender ist, es neu zu denken.
Ein Mann im Gehrock stützt sich auf seinen Stock und lässt den Blick über vernebelte Berge schweifen. Mit gutem Grund hatten die Kurator*innen der Sonderausstellung „Wanderlust“ in der Alten Nationalgalerie in Berlin, die vom Mai bis zum September 2018 lief, das 1818 entstandene ikonische Gemälde „Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich als Plakatmotiv gewählt. Auch bei Betrachter*innen, die sich vielleicht eher fürs Flanieren in der Stadt, fürs Radfahren oder für Zugreisen als fürs Wandern interessieren, löst es bis heute starke Reaktionen aus.
Denn das Bild schlägt quasi zwei Fliegen mit einer Klappe. Auf der einen Seite strahlt es ein erhabenes Freiheitsgefühl aus wie nur wenige Gemälde vor ihm. Auf der anderen zeigt es aber auch, wie künstlich das vermeintlich authentische Naturerleben hergestellt wird: wie sehr es eben auch eine Metapher für ganz andere Themen ist.
Die Berglandschaft ist wie eine Ansichtskarte aus einer Art Best-of aus Bergen in der Sächsischen und der Böhmischen Schweiz zusammengestellt. Der Gehrock des Mannes ist als altdeutsche Tracht interpretiert worden, was Bände über den verdächtigen Nationalismus von Romantiker*innen wie Friedrich spricht.
Die Wissenschaft ist sich einig: Die Romantik hat das Gehen ohne Ziel und Zweck, das Wandern als bewusste Kulturhandlung und als Projektionsfläche geprägt. Für viele Romantiker*innen war das Wandern ein Zeichen für Heimatliebe. Im besten Fall war es auch ein Symbol der Emanzipation des Bürgertums vom Adel, denn der Adel träumte eher selten davon, beim Lustwandeln in den Gärten, Parks und Ländereien über den Zaun zu klettern und sich zu verlieren.
Die Romantiker*innen waren Zeitgenössinnen der Industrialisierung, sie sehnten sich nach Entschleunigung und dem Ausbruch aus ihrer oft öden bürgerlichen Existenz – inklusive unterbezahlter und darum erniedrigender fester Anstellung.
In seinem amüsanten Buch „Eine kurze Geschichte des Wanderns“ aus dem Jahr 2010 hat der Journalist und Übersetzer Dirk Schümer darauf hingewiesen, dass die Überhöhung des Wanderns als ästhetische Ruhelosigkeit und geistige Flucht in der Romantik allerdings keinen „tatsächlichen Boom des Gehens“ zur Folge hatte. Der Dichter Ludwig Tieck beispielsweise schrieb übers Wandern, liebte es aber vor allem in späteren Jahren eher, im Café zu sitzen. Selbst der Naturforscher Goethe ging, als er älter war, lieber in seinem Gemüsegarten spazieren als im Wald.
Wer sich mit der Kulturgeschichte des Wanderns befasst, der wandert über reinste Minenfelder. Denn es ging weiter so mit dem Wandern: 1896 gründeten ausgerechnet in Spandau eine Handvoll Stenografiestudenten die Wandervogelbewegung, als Reaktion auf die autoritären Strukturen der wilhelminischen Zeit. Zuerst erkundeten sie noch harmlos die nahen Wälder, doch bald entwickelten sie paramilitärische Züge und organisierten sich – absurderweise – immer hierarchischer.
In preußischer Ordentlichkeit unterwarfen sie sich bedingungslos ihren Anführern, trugen Uniformen und hießen meist weder Juden noch Katholiken willkommen. Als die Nazis kamen, gingen sie ziemlich widerstandslos in Verbänden wie Kraft durch Freunde und dem Bund deutscher Mädel auf. Wer in den Sechziger- oder Siebzigerjahren aufgewachsen ist, kann sich vielleicht noch an alt gewordene Wandervogelfans, Waldschrate mit Karohemd, Kniebundhose und Wanderstock voller Blechwappen erinnern, die gern die gelangweilten Kinder bei Zwangsspaziergängen mit den Eltern stramm überholten.
Nun wird aber unsere Zeit immer körperloser und effizienter, und gleichzeitig ist sie erschüttert von Krisen wie Klimawandel und Pandemie. Wir wissen nicht mehr, wie und wohin wir reisen sollen. Wie könnte man also das Wandern aus all den bedenklichen Verstrickungen seiner Geschichte befreien? Wie könnten wir nochmal von vorn damit beginnen?
Wandervereine beklagen Nachwuchsmangel
Die Berliner Wandervereine zumindest klagen zwar über Nachwuchsmangel, sagen aber auch, dass der Neuanfang längst vollzogen sei. Sie berichten von immer mehr jungen Leuten, die sich ohne Satzung, Vorstand und Präambeln, ja sogar ohne allzu viel teures Zubehör aus dem Outdoorladen auf die Socken machen. Der erfolgreichste deutsche Dokumentarfilm aus dem Jahr 2017, „Weit“, zeigt ein sympathisches junges Paar aus Baden, das ohne großes Budget zu Fuß, per Anhalter und Schiff nach Osten zog, um dreieinhalb Jahre und 50.000 Kilometer später zu dritt aus dem Westen wieder nach Hause zu kommen.
Vor zwei Jahren ist im Berliner Verlag Matthes & Seitz, der mit seinen Büchern über Natur und das Schreiben darüber große Erfolge feiert, das 20 Jahre alte Buch „Wanderlust“ der US-amerikanischen Schriftstellerin, Journalistin, Essayistin und Kulturhistorikerin Rebecca Solnit auf Deutsch erschienen. Solnit unterbreitet darin einen tollen Vorschlag, wie wir heute das Wandern denken könnten. Sie begreift es weniger als Technik zur körperlichen Ertüchtigung, als Sport, der uns für den Arbeitstag stählt, sondern eher als eine subversive Praktik. Denn das Wandern ist ein wenig wie das Tagträumen, das „Nichts-Besonderes-Tun“: Nur, indem man nichts Bestimmtes anstrebe, „findet man Dinge, die man nicht sucht“, kommt zu überraschenden Erkenntnissen oder wird sich allmählich eines Gedankens oder eines Themas bewusst, den oder das man am Schreibtisch einfach nicht finden konnte, sagt Solnit.
Wer heute wandert, kann die Geschichte und den politischen Missbrauch des Wanderns seit 200 Jahren getrost vergessen. Das Wandern ist eine gute Methode, den urbanen, stressigen Alltag hinter sich zu lassen. Je ereignisloser es ist, desto mehr ähnelt es einer dieser Leerstellen, die sich einfach mit nichts Praktischem, Produktivem oder Schnellem füllen lassen.
Und am schönsten ist es vielleicht, sich in einer Natur zu bewegen, die zwar ebenfalls vom Menschen geschaffen wurde, sich seinem Kontrollwahn aber auch immer wieder entzieht.
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