Wand und Boden: Wie Uwe Johnsons „Jahrestage“ in Pillenform
■ Kunst in Berlin jetzt: Arnulf Rainer, Jessica Stockholder, Helga Paris
Plötzlich schlagen die Dinge um, der wilde Sturm wird zur leichten Brise. Arnulf Rainer, ehemals Freund von Rudolf Schwarzkogler und Mitinitiator des Wiener Aktionismus der 60er Jahre, beschäftigt sich heutzutage mit Blumenbildern im Stil der Romantik und nennt es „Blatt-Malerei“. Seidenblumen werden collageartig auf Holztafeln geklebt und mit dünnflüssiger roter, schwarzer und gelber Ölfarbe bestrichen. Als Ikonen wirken die plattgepreßten Blumen entsprechend aufgeladen, die glatten Stengel recken sich über einen halben Meter in die Höhe, und das Blatt selbst hat einen Durchmesser von knapp 20 Zentimetern – schöne Grüße an den Genossen Phallus. Noch immer beschäftigt sich der bald 60jährige Wiener in solchen Arbeiten mit dem Unbewußten und dem Tod, stets soll in seinen Stilleben zumindest gestisch ein wenig Mortifikation mitschwingen. Für die Serie „Mikrokosmos“ hat Rainer lauter kleine Löcher ins Sperrholz gebohrt, um, wie Barbara Catoir schreibt, „die typisch österreichische Lust am Untergang“ zu zeigen (die Idee mit den Löchern kam allerdings von Lucio Fontana aus Italien). Trotzdem stimmt die Wald-und-Wiesen-Nekrophilie bei einem Künstler, der früher auf Fotos wütend sein schmerzverzerrtes Gesicht mit schwarzen Pinselhieben übermalte, doch sehr versöhnlich.
Bis 24.5., Di.–Fr. 10–12.30/ 14.30–18.30; Sa 11–14 Uhr, Galerie Michael Haas, Niebuhrstr. 5
Über die Installationen von Jessica Stockholder bei Contemporary Fine Arts kommt man ins Grübeln. Ist das gern als britisch gelobte Allover aus Alltag, Lebensfrust und Plastik-Trash der jungen britischen Kunst womöglich eine amerikanische Erfindung? Denn Stockholders mit stark kontrastierenden Acrylfarben übermalte Arrangements – Wäschekörbe, Sitzecken oder Teppiche – wirken wie Vorbilder des Londoner urban lifestyle, aus denen Tracey Enim und Sarah Lucas ihre aggressive Bildsprache entwickelt haben. Dann aber lächelt bei Stockholder der Brite und überhaupt Europa zurück: Waren nicht Paolozzis Collagen der vierziger Jahre die ersten Ensembles der Popkultur? Offenbar ist selbst die Decollagetechnik des „Nouveau Realisme“ in das Farbspiel der 1959 geborenen Künstlerin aus Seattle eingegangen.
Was immer man an Bezügen zur Kunstgeschichte sucht, man findet sie. Dennoch läßt sich Stockholder mit ihren Kombinationen aus Bild und Objekt nur bedingt auf das historische Material ein: „Mich beschäftigt immer die Komplexität von Grenzen, die Stelle, wo das eine beginnt und das andere endet, wo Innen zu Außen wird, wo die Kunst auf das Leben trifft, das Verhältnis von Rückseite zu Vorderseite, von Fiktion zu Realität, von Oberfläche zu Struktur.“ Insofern sind Zitate bloß Bausteine, die Stockholder mit „konkreter Poesie“ vergleicht, in der „die Wörter auf einer Buchseite sowohl eher linguistische als auch eine visuelle Bedeutung haben“. Das klingt durchaus plausibel und funktioniert – etwa wenn man eine kleine Arbeit betrachtet, in der sich Diaprojektor, Nachttischlampe, türkisblaue Plastikplane und ein gelber Puschel begegnen.
Parallel dazu zeigen Entwürfe in der daadgalerie, daß Stockholder ihre von der Malerei ausgehenden Rauminstallationen ungeheuer präzise vorbereitet. „Growing Rock Candy Mountain Grasses in Canned Sand“, eine pinkfarbene Landschaft aus Plastikfolie und Steinbrocken, wurde 1992 für den Westfälischen Kunstverein Münster konzipiert. In der Skizze wird aus dem scheinbar ungeordneten Haufen eine plane abstrakte Fläche.
Bis 25. Mai, täglich 12.30–19 Uhr, Kurfürstenstraße 58
Bis 25. Mai, Di.–Sa. 12–18 Uhr, Sophienstraße 21
Obwohl der bärtige Mann, den Helga Paris im Friedrichshain fotografiert hat, direkt in die Kamera starrt, bleibt das Gesicht unscharf. Zwei Aufnahmen weiter erkennt man ihn zwischen Brandmauern neben seinem Dobermann; später rennen Kinder durch den Wald. All diese Szenen sind eher unspektakulär und scheinen doch an Ängste zu rühren – tatsächlich hat eine Besucherin ins Gästebuch der Fotogalerie des Kulturamts Friedrichshain über diese Serie geschrieben, daß sie „stille Achtung“ vor den Bildern empfinde, „wo wir eigentlich laut werden müßten“. Vielleicht sieht sie auch etwas ganz anderes als Helga Paris, deren Fotos gerade von der Ambivalenz zwischen Einfühlung und Distanz leben.
Mehr nebenbei erzählen die in Berlin, Brandenburg, Rom und Polen entstandenen Aufnahmen der letzten vier Jahre eine Biographie. Helga Paris wurde 1938 in Pommern geboren, wuchs in Zossen mit den Russen auf, kam 1967 als Autodidaktin zur Fotografie und war bis 1990 im Verband der bildenden Künstler in der DDR. Letztes Jahr wurde sie in die Akademie der Künste aufgenommen. Alle Erinnerungen fügen sich in diese Geschichte, etwa im Rückblick auf die erste Kamera: „Tante Hanni besaß eine Agfa ,Billy Record‘. Viele Fotos aus dieser Zeit sind zerschnitten, die Russen fehlen.“ Immer wieder ist die Rede von einer Kindheit unter der Besatzung, von Scham und davon, daß man beim Spielen lieber Amerika als Polen sein wollte.
Was sich im Katalog wie Uwe Johnsons „Jahrestage“ in Pillenform liest, wird von Paris ähnlich streng und detailreich fotografiert. In Rom faszinieren sie herumstromernde Strichjungen am Bahnhof ebenso wie zwei Skinheads mit „White Pride“-Sticker am Revers. Selbst in diesen Augenblicken bleibt die Fotografin sachlich – vielleicht auch, weil Paris auf die selbstsichere Inszenierung der Porträtierten vertraut.
Bis 17.5., Di.–Sa. 13–18 Uhr, Helsingforser Platz 1 Harald Fricke
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