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Wahlzettel gegen US-Atomkraftindustrie

Zermürbungstaktik der Anti-AKW-Bewegung zeitigt Erfolge / Die Atomkraftgegner in den USA haben ihre Taktik geändert: statt der Gesamtindustrie werden jetzt einzelne Kraftwerke aufs Korn genommen / Per Referendem soll Atompolitik abgewählt werden / Meist verhelfen die hohen Strompreise zur Einsicht  ■  Aus Washington Silvia Sanides

„Die amerikanische Anti-Atomkraftbewegung befindet sich seit Tschernobyl im Aufwind“, so Joseph Kriesberg von „Public Citizen“, eine von dem Verbraucheradvokaten Ralph Nader gegründete Anti-AKW-Organisation. Vorbei allerdings, so Kriesberg, sind spektakuläre Aktionen und Großkundgebungen. Vielmehr arbeiten die AKW-Gegner heute unter der Devise „steter Tropfen höhlt den Stein“. Unter Beschuß nehmen sie nicht die Gesamtindustrie, sondern einzelne Kraftwerke, und als Munition dienen ihnen Referenden und bestehende Gesetze.

Die Zukunft des Rancho-Seco-Kraftwerks bei Sacramento im Bundesstaat Kalifornien zum Beispiel hängt von einer Volksabstimmung ab. Eigentümer ist der Regierungsbezirk Sacramento und damit letztlich die Bevölkerung. 1985 wurde Rancho Seco nach einem Unfall abgeschalten und für 400 Millionen Dollar repariert. Seit März dieses Jahres läuft das Kraftwerk wieder auf niedrigen Touren, und im Oktober soll der Betrieb voll aufgenommen werden. AKW-Gegner dagegen hofften mittels eines Referendums, das vor zwei Wochen stattfand, die Stillegung des Kraftwerks zu erzwingen. Grund genug hätte es für die Stromverbraucher gegeben, die Abschaltung des Kraftwerks zu fordern, denn sie haben Rancho Secos Malaise mit Strompreiserhöhungen von 80 Prozent innerhalb von zwei Jahren bezahlen müssen. Trotzdem entschlossen sich die Wähler gegen die sofortige Schließung des AKWs und für einen Kompromißvorschlag der Industrie. Nach der Kompromißlösung bekommt Rancho Seco eine 18monatige Gnadenfrist, während der das Kraftwerk getestet werden darf. Danach sollen die Wähler in einem weiteren Referendum über die Zukunft des Kraftwerks entscheiden.

Einen eindeutigen Sieg feierten AKW-Gegner Ende Mai, als die Nachricht von der Stillegung des Atomkraftwerks Shoreham bekanntwurde. Nach jahrelangen Verhandlungen zwischen dem Bundesstaat New York und der Stromerzeugerin „Long Island Lighting Company“ (Lilco) war beschlossen worden, daß New York das 5,3-Milliarden-Dollar-Kraftwerk für einen Dollar von Lilco übernimmt, um es stillzulegen. Die Kosten für den Abbruch des Kraftwerks, die sich auf schätzungsweise 500 Millionen Dollar belaufen werden, muß Lilco tragen.

Im Gegenzug soll der Konzern Genehmigung erhalten, einen Verlust von 2,5 Milliarden Dollar bei den Steuerbehörden zu melden, so daß er auf zehn Jahre steuerfrei operieren wird. Weiterhin erhält Lilco die garantierte Zusage, in den nächsten drei Jahren die Strompreise um fünf Prozent jährlich erhöhen zu dürfen. Offensichtlich ein attraktiver Kompromiß: Am Tag nach der Bekanntgabe des Abkommens stiegen die Aktien des Konzerns um 14 Prozent.

Ein Sieg für Atomkraftgegner war die Entscheidung dennoch. Seit 20 Jahren gibt es um das Kraftwerk, dessen Standort die dicht besiedelte, der Stadt New York vorgelagerte Halbinsel Long Island ist, Kontroversen. Letztendlich aber ist die Schließung von Shoreham dem Unfall im Atomkraftwerk Three Mile Island zu verdanken. Zu dessen Vermächtnis gehört die von der Bundesregulierungsbehörde an alle Kraftwerke erteilte Auflage, Evakuierungspläne zu erstellen.

Als die Bauarbeiten an Shoreham 1983 zum Abschluß kamen, und Lilco dazu übergehen wollte, entsprechende Evakuierungspläne durchzuführen, ergriffen die Kraftwerksgegner die Gelegenheit und riefen zum Boykott auf. Da inzwischen auch der Gouverneur des Staates New York und die Behörden des zuständigen Regierungsbezirks gegen die Inbetriebnahme des Kraftwerks waren, konnten die notwendigen Evakuierungspläne bis heute nicht vorgelegt werden.

Shoreham ist unter den mehr als hundert seit 1973 stornierten beziehungsweise eingemotteten amerikanischen Atomkraftwerken einer Inbetriebnahme am nächsten gekommen. Industrieexperten nahmen die Nachricht von der Stillegung des Kraftwerks dennoch mit fatalistischer Gelassenheit hin: So miserabel sei das Befinden der Atomindustrie, daß ihr nicht mehr viel Schaden zugefügt werden könne. Man habe es mit einem sterbenden Roß zu tun, das sich ein Bein bricht, kommentierte die 'New York Times‘.

Entgegen Aussagen der Industrievertreter könnte das Ende von Shoreham ein Präzedenzfall für ein weiteres Kraftwerk werden. Das Atomkraftwerk Seabrook (Bundesstaat New Hampshire) steht zur Zeit zur Inbetriebnahme bereit, doch boykottieren auch hier sechs entscheidende Gemeinden im Nachbarstaat Massachusetts mit ausdrücklicher Unterstützung Gouverneurs Michael Dukakis die Evakuierungsübungen. Kürzlich entfernten die Gemeinden sogar die Strommasten, auf denen die Sirenen für Seabrooks Unfallwarnsystem angebracht waren, von ihrem Terrain und Ende vergangener Woche wurde bekannt, daß der viertgrößte Teilhaber von Shoreham sich aus dem Unternehmen zurückziehen will.

Shoreham wird auch im stillgelegten Zustand noch einiges Kopfzerbrechen bereiten. Da das Kraftwerk bereits seit einigen Jahren auf niedrigen Touren getestet wird, ist das Reaktorinnere hochradioaktiv. Eine Endlagerstätte für diesen Abfall gibt es noch nicht. Die Brennstäbe können allenfalls auf dem Reaktorgelände gelagert werden. Wahrscheinlich wird das Kraftwerk noch lange als Leiche die Küste Long Islands zieren, eine Leiche allerdings, die sorgsam überwacht sein will.

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