Wahlsieg in Istanbul: Istancool
Der Erdrutschsieg begeistert die Opposition. Er ist zugleich ein Menetekel für Recep Tayyip Erdoğan. Neigt sich seine Herrschaft langsam dem Ende zu?
Am Kopfende des Hauptplatzes steht er gemeinsam mit seiner Frau Dilek auf dem Dach des Busses, mit dem er seit Wochen durch Istanbul getourt ist, und weiß nicht mehr, was er noch sagen soll. Die Freude über den Sieg, die Betonung darauf, sich jetzt verantwortlich zu verhalten, die Verheißungen über die lichte Zukunft für die Bürger der Stadt, alles ist schon mehrfach gesagt worden. Doch die Menschen bewegten sich keinen Zentimeter vom Platz weg und wollen alles immer noch einmal hören.
Heiser und sichtlich verausgabt macht „Ekrem Abi“ (Großer Bruder), wie İmamoğlu hier von allen genannt wird, einen neuen Anlauf. „Diese Wahlnacht ist nicht nur ein grandioser Sieg für die Menschen von Istanbul“, ruft er, „es ist ein Neuanfang für Istanbul und die gesamte Türkei.“ Noch einmal verneigt sich der 49-Jährige vor seinem Publikum. „Ihr habt an die Demokratie geglaubt und nicht aufgegeben, jetzt ist die Demokratie in der Türkei zurück.“
Die Menschen strahlen und genießen jedes Wort von İmamoğlu. Die meisten sind so erschöpft wie ihr Idol, denn sie alle haben nervenaufreibende Wochen hinter sich. Zuerst der kaum für möglich gehaltene knappe Wahlsieg am 31. März. Dann das wochenlange Hinauszögern der Anerkennung dieses Siegs durch die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Dann die Nachzählungen, die Nächte, die İmamoğlus Anhänger in den Schulen verbrachten, wo die Wahlsäcke mit den abgegebenen Stimmen von ihnen Tag und Nacht bewacht wurden, damit niemand sie austauschen konnte. Schließlich, nach dem trotz aller Nachzählungen der Vorsprung İmamoğlus einfach nicht verschwinden wollte, die Bestätigung seines Siegs durch die Wahlkommission, die Übergabe der Ernennungsurkunde als Bürgermeister.
Ein Wechselbad der Gefühle endet mit purer Freude
Die Freude auf den Straßen, der spontane Jubel in der U-Bahn, um nur 18 Tage später die tiefe Enttäuschung erleben zu müssen, als die Wahlkommission auf massiven Druck des Präsidenten hin İmamoğlus Wahlsieg mit fadenscheinigen Argumenten annullierte und eine Neuwahl ansetzte. Doch aus Frust wurde Wut, aus Wut Engagement und eine erneute Wahlkampagne İmamoğlus, wie die Türkei sie lange nicht mehr erlebt hat.
Aus diesem Wechselbad der Gefühle ist nun grenzenlose Erleichterung geworden. Es hat geklappt, trotz allem. Der Wahlsieger und seine Anhänger müssen sich immer wieder versichern, dass wirklich Realität ist, was an diesem Wahlsonntag geschah.
Ekrem Imamoglu, Bürgermeister von Istanbul
Denn die Opposition hat nicht nur gewonnen. İmamoğlu hat geradezu einen Erdrutschsieg eingefahren. Zwanzig von 31 Istanbuler Bezirken hat die Opposition geholt, darunter Hochburgen der AKP wie Fatih oder den Heimatbezirk von Erdoğan, Üsküdar. Der Abstand zwischen dem AKP-Kandidaten Binali Yıldırım und Ekrem İmamoğlu ist nach dem vorläufigen Endergebnis von 13.000 Stimmen Ende März auf unglaubliche 810.000 Stimmen gewachsen, das sind 54 gegen 45 Prozent. Die Wahlbeteiligung ist in die Höhe geschossen, 8,7 von 10,5 Millionen Wahlberechtigten sind zu den Urnen gegangen.
Niemand hat mit einem solchen Vorsprung für İmamoğlu gerechnet, am wenigsten wohl die Regierungspartei und ihre Lautsprecher in den Medien.
Das Eingeständnis der Niederlage
Die Schlüsselszene dieser Wahlnacht in der 16-Millionen-Metropole ist schon um 19.20 Uhr mit Erstaunen zu erblicken, nur knapp zweieinhalb Stunden nach Schließung der Wahllokale. Bis dahin sind all die lange vorbereiteten Grafiken auf den Fernsehkanälen leer geblieben. Auch Anadolu Ajansi, die staatliche Nachrichtenagentur mit Hang zu Jubelzahlen für die Regierenden, bleibt stumm wie ein Fisch. Die ersten Resultate für den Regierungskandidaten Binali Yıldırım sind offenbar so miserabel, dass man lieber gar nichts sendet. Erst Binali Yıldırım selbst nimmt dann die Entscheidung in die Hand.
In seiner unnachahmlichen, umständlichen Sprechweise gibt er um zwanzig nach sieben bekannt, dass Ekrem İmamoğlu mit großem Vorsprung führt und die Wahl wohl gewonnen hat. Yıldırıms Statement beendete den Wahlabend, bevor der überhaupt richtig beginnen kann.
Es dauert noch ein paar Stunden, bis Erdoğan dem Sieger gratuliert. „Der nationale Wille hat sich heute einmal mehr gezeigt“, schreibt der Präsident. „Ich gratuliere Ekrem İmamoğlu.“ Viele AKP-Mitglieder werden mit Interesse verfolgt haben, dass der Erdrutschsieg für İmamoğlu nach Meinung ihres Vorsitzenden der „nationale Wille“ ist.
Der größte politische Fehler von Erdogan
Tatsächlich war es das Ergebnis des größten politischen Fehlers Erdoğans, seit er vor 17 Jahren mit seiner AKP die Macht in der Türkei erobert hat. „In der Nacht zum 6. Mai, als die zentrale Wahlkommission auf seinen Druck hin den Wahlerfolg von İmamoğlu annullierte, war das Ergebnis der Wiederholungswahl praktisch schon klar“, schreibt am Montag der Hürriyet-Kommentator Serkan Demirtaş. „Dieser Angriff auf das Gewissen und das Gerechtigkeitsgefühl der Wähler, auch vieler AKP-Wähler, hat die Zustimmung für İmamoğlu so enorm in die Höhe getrieben.“
Wie konnte Erdoğan diesen Fehler machen? Jahrelang gehörte es zu seinem Markenzeichen, dass er den „Puls des Wählers“ fühlen konnte und in seinen unzähligen Wahlkampagnen den Leuten sagen konnte, was sie hören wollten. „In seinem Palast hat er den Kontakt zur Bevölkerung verloren“, sagt dazu ein AKP-Funktionär, der anonym bleiben will. „Hoffentlich hat der Präsident den Schuss von Istanbul jetzt gehört.“
Doch daran bestehen berechtigte Zweifel. Die Menschen wollen Versöhnung und nicht andauernd gegeneinander aufgehetzt werden, sind sich fast alle Kommentatoren einig. Auch um die lahmende türkische Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, wäre eine innenpolitische Deeskalation eine erste Voraussetzung.
Erdoğans Politik lebt von der Konfrontation. Schon immer, wenn es für ihn eng zu werden drohte, hat er auf Angriff geschaltet, seine politischen Gegner als „Terroristen“ oder „Verräter“ denunziert und damit seine Wählerschaft erfolgreich mobilisiert. Das ist ihm nun erstmals nicht mehr gelungen. Auf Erdoğan kommen schwere Zeiten zu.
In der Partei des Präsidenten gärt es
Innerhalb seiner AKP gärt es. Es ist schon lange kein Geheimnis mehr, dass sich rund um den ehemaligen Präsidenten Abdullah Gül, den früheren Wirtschafts- und Finanzminister Ali Babacan und den früheren Ministerpräsidenten Ahmed Davutoğlu eine Gruppe gebildet hat, die über die Gründung einer neuen konservativen, aber liberaleren Partei als der AKP Erdoğans nachdenkt. „Nach der Sommerpause wird die neue Partei an die Öffentlichkeit gehen“, ist sich ein AKP-Funktionär, der die Beteiligten kennt, sicher. Nach diesem Wahlergebnis erst recht.
Die Niederlage in Istanbul wischt erstmals die Angst fort, mit deren Hilfe Erdoğan alle seine Kritiker seiner Politik wie seiner Person unterdrückt hat. Das betrifft nicht nur die Opposition, sondern auch die eigene Partei. Die miserable Wirtschaftslage und die schweren Probleme des vom Präsidenten so gewollten Präsidialsystems machen seinen innerparteilichen Kritikern zusätzlichen Mut.
Hinzu kommt, dass der Präsident sein Land in eine schier ausweglose außenpolitische Lage geführt hat, in deren Folge die Wirtschaft der Türkei endgültig kollabieren könnte. Der Kauf der russischen Raketenabwehrsysteme S-400 hat die amerikanischen Nato-Verbündeten gegen Erdoğan aufgebracht. Sollten die S-400 wie geplant im Juli geliefert werden, drohen US-Kongress und Präsident Donald Trump mit Wirtschaftssanktionen. Alleine die Aussicht darauf hat in den letzten Monaten ausgereicht, dass die türkische Lira konstant an Wert verlor.
Ende dieser Woche will Erdoğan am Rande des G20-Gipfels in Japan sowohl mit Donald Trump als auch dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nach einer Lösung suchen. Gelingt ihm das nicht, werden die US-Sanktionen voraussichtlich im Juli in Kraft treten.
Erdoğan ist erst im letzten Jahr für fünf Jahre als Präsident gewählt worden, die nächsten regulären Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stehen erst für 2023 an. Doch darauf kann sich der Präsident nicht mehr verlassen. Sollte in diesem Herbst eine konservative Konkurrenzpartei gegründet werden, ist davon auszugehen,dass eine größere Anzahl AKP-Abgeordneter überläuft. Dann verlöre Erdoğan womöglich seine Mehrheit im Parlament. Gegen die Volksvertretung zu regieren ist zwar möglich, aber schwierig. Der Präsident müsste neue Koalitionen schmieden, aber seine Alleinherrschaft wäre allemal beendet.
Möglich, dass es dann zu vorgezogenen Wahlen kommt. Sicher ist am Tag nach dem Erdrutschsieg der Opposition in Istanbul aber eins. Nach der Dauerdepression der Opposition und Siegen ohne Ende für Erdoğan kommen nun turbulente Zeiten auf den konservativ-islamischen Präsidenten zu. Die Vorboten sind in der Nacht zum Montag für jeden sichtbar, als Zehntausende in den Straßen Istanbuls feiern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Der alte neue Präsident der USA
Trump, der Drachentöter
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens