Wahlkampf in Russland: Es ist Wahl und niemand geht hin
In Russland und den besetzten Gebieten werden Wahlen inszeniert. Aber nicht mal die Kandidaten kommen noch zum TV-Duell.
Doch die Politiker sind nicht ins Studio gekommen. Wie auch andere Kandidat*innen quer durchs Land ihre Debattierpulte einfach Debattierpulte haben sein lassen. Debatten sind in Russland ohnehin nicht geduldet. Der Moderator von Rossija 1 bricht wenige Momente später seine Sendung ab, es geht weiter im Programm. Das Fernsehen meldet „Erfolge“ an der Front in der Ukraine.
Das leere Studio ist symptomatisch für die russischen Regionalwahlen, die bis Sonntag andauern. Es sind Scheinwahlen, die der Legitimation des Bestehenden dienen. Das Volk soll Beifall klatschen. Staatsangestellte werden faktisch genötigt, ihre Kreuze bei den „richtigen“ Kandidat*innen zu machen. Andere lockt man mit allerlei Gewinnen. Allerdings werden – im Gegensatz zum vergangenen Jahr – keine Wohnungen oder Autos mehr verlost, sondern Medikamente, Spielzeug oder Geld.
Abgestimmt wird in ganz Russland, und auch in den besetzten ukrainischen Gebieten Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja. In 21 Regionen stehen Gouverneure zur Wahl, in Moskau soll der Bürgermeister gewählt werden, in 20 Regionen werden Lokalparlamente gewählt und auch 4 freigewordene Sitze in der Duma, dem Staatsparlament, sollen neu besetzt werden. Es ist eine Wahl mitten im Krieg, sie gaukelt Normalität vor. Eine Normalität, die hohl ist.
Die Menschen sind müde
Wahlkämpfe, die als solche zu bezeichnen wären, finden nicht statt. Viele oppositionelle Kandidat*innen, die es im vergangenen Jahr noch gegeben hatte, haben das Land verlassen. Auch wenn Oppositionelle aus dem Ausland versuchen, die in Russland gebliebenen Russ*innen zu motivieren, zur Wahl zu gehen, weil nur so das Land zu verändern sei, so verhallen ihre Aufrufe meist. Die Menschen sind müde, sind müde gemacht worden von einem System, das politische Beteiligung mit rigorosen Gesetzen getilgt hat, viele sehen keinen Sinn darin, sich an der Abstimmungsfarce zu beteiligen.
In Moskau finden sich entlang der Straßen mehr Plakate mit Werbung, an der Front zu dienen, als Konterfeis von Kandidaten. Viele Menschen wissen nicht, wer die Gegner des langjährigen und durchaus erfolgreichen Moskauer Bürgermeisters Sergei Sobjanin sind. Der 65-Jährige lässt die Stadt hübsch gestalten, lässt immer weitere Metro-Stationen einrichten, Krankenhäuser bauen und die Verwaltung digitalisieren. Zum Krieg äußert er sich nie.
Vor zehn Jahren noch hatte Alexei Nawalny, mittlerweile für Jahrzehnte in die Strafkolonie geschickt, bei den Bürgermeisterwahlen seinen größten Erfolg gefeiert. Er kam nach Sobjanin auf Platz 2. Solche Zeiten, wo noch der Anschein von Vielfalt und Konkurrenz gewahrt wurden, sind längst vorbei.
Heute stehen dem Amtsinhaber ein Duma-Kandidat der Partei „Neue Menschen“ und der Enkel des Langzeitkommunisten Gennadi Sjuganow gegenüber, sie sind lediglich Puppen in einem Wahlspiel, bei dem der Sieger bereits feststeht, noch bevor die Wahllokale geöffnet haben.
Stadtfest statt wählen
Manche Moskauer*innen wissen nicht einmal, dass Wahl ist. „Ich gehe seit Jahren nicht abstimmen, warum sollte ich das jetzt plötzlich tun?“, fragt eine ältere Dame im Zentrum der Stadt. „Wahl? Es ist doch Stadtfest. Wir gehen mit der ganzen Familie feiern“, sagt eine Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschiebt.
Moskau hat sich herausgeputzt, hat Häuserwände mit Fahnen geschmückt, hat Bühnen in den Parks aufstellen lassen. Es feiert das 876. Jahr seines Bestehens. Es gibt Konzerte, Kinderschminke und ein Feuerwerk. Menschenbeglückung in Zeiten eines Krieges, den die meisten Russ*innen beiseiteschieben, mögen auch bei und in Moskau mittlerweile fast täglich Drohnen herunterfallen.
Das Bürgermeisterbüro meldet schnell, es habe alles im Griff, die Stadt lässt zerborstene Fenster rasch ersetzen und kaputten Asphalt neu verlegen. Die Menschen spazieren durch die herbstliche Stadt, sitzen in der Sonne, stellen sich in die Schlange vor Ausstellungen. Es herrscht politische Grabesstille.
Und doch ist der Staat bemüht, die Wahl wie eine Wahl aussehen zu lassen, auch wenn er unabhängige Wahlbeobachter*innen als Extremist*innen betrachtet und einzusperren versucht. Es ist ein Probelauf für die Präsidentschaftswahl im März 2024. Gewisse Methoden werden bereits getestet, vor allem das Abstimmen zu Hause am Rechner.
Gleiche Nachnamen
Dabei lassen sich Manipulationen noch weniger nachvollziehen. In manchen Regionen werden für Kandidat*innen jeglicher Parteien gleich aussehende Werbezettel gedruckt, die Menschen können kaum erkennen, wer sich wofür einsetzt. Was letztlich auch gar nicht wichtig ist.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
In der Region Woronesch haben sich gleich acht Männer mit demselben Nachnamen registriert. Die Menschen können nun zwischen Wladimir, Alexander, Alexej, Anatoli, Anton, Wiktor, Jewgeni oder Juri Wachtin wählen.
In der Region Smolensk hatte es einen Aufstand gegeben, weil sich ein Alexander Selenski als Kandidat – für die Regierungspartei „Einiges Russland“ – hat aufstellen lassen. Ein Rentner forderte den Mann mit dem gleichen Nachnamen wie der ukrainische Präsident auf, seinen Nachnamen zu ändern oder seine Kandidatur fallen zu lassen. Sonst beleidige dieser „alle Teilnehmer der militärischen Spezialoperation und alle Patrioten“. Selenski kandidiert weiter.
Kein Kräftemessen
In der Republik Chakassien, einer Region im Süden Sibiriens, sah sich der Staat gezwungen, dem jungen Kommunisten Walentin Konowalow, der als 30-Jähriger in einer Protestwahl vor fünf Jahren den Posten des Oberhaupts der Republik erobert hatte, einen loyalen Duma-Abgeordneten als Gegenspieler vor die Nase zu setzen.
Als immer klarer wurde, dass Sergei Sokol, ein Mitglied von „Einiges Russland“, der sich als Veteran des Ukrainekriegs feierte, Konowalow unterlegen sein würde, meldete sich Sokol krank und zog seine Kandidatur zurück. Auf ein Kräftemessen wollte es der Staat offenbar nicht ankommen lassen. Damit verlor Russland seinen einigermaßen interessantesten Wahlkampf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Bisheriger Ost-Beauftragter
Marco Wanderwitz zieht sich aus Politik zurück