Wahlkampf im Saarland: Mit maximaler Endgeschwindigkeit
Im Saarland wird Ende März gewählt, die SPD liegt in Umfragen vorne. Es wäre der erste Sieg seit Lafontaines Abgang.
Kugelstoßen, langweilig? Niemals! „Das ist ein megakomplexer Bewegungsablauf, bei der Sie eine Körperverdrehung explosionsartig auflösen, um eine maximale Endgeschwindigkeit der Kugel zu erzielen.“ Wenn man Anke Rehlinger beim Treffen in der saarländischen Landesvertretung gegenübersitzt und nach einer ihrer Lieblingssportarten fragt, kann sie aus dem Stand einen Fachvortrag halten. Rehlinger ist begeisterte Sportlerin.
Ihre sportliche Karriere begann sie als Jugendliche beim Tischtennis. Heute, mit 45 Jahren, ist sie amtierende Vizeweltmeisterin der Senioren im Kugelstoßen. Bis heute hält sie außerdem die saarländischen Landesrekorde im Kugelstoßen und im Diskuswerfen. Nun schickt sie sich an, im Land ein weiteres Treppchen zu erklimmen: als Ministerpräsidentin.
Am 27. März wird im Saarland ein neuer Landtag gewählt. In der aktuellen Umfrage von infratest dimap von dieser Woche liegt die SPD mit 37 Prozent vor der CDU, die demnach auf 31 Prozent käme. Bei der Frage, wen sie am liebsten als Ministerpräsident:in hätten, votierten 49 Prozent der Befragten für die Spitzenkandidatin der SPD, Anke Rehlinger, und nur 33 Prozent für den Amtsinhaber Tobias Hans von der CDU.
Von 1985 bis 1998 war Oskar Lafontaine, damals noch SPD, Ministerpräsident im Saarland. Ihm folgte für nur knapp ein Jahr der Sozialdemokrat Reinhard Klimmt. Seitdem regiert die CDU. Nun könnte es erstmals wieder klappen mit einem SPD-Wahlsieg. „Die Stimmung ist gut“, sagt der 29-jährige SPD-Kreischef Pascal Arweiler. Rehlinger bemüht sich bei dem Treffen im Februar, nicht zu siegesgewiss zu klingen. „Es entscheidet sich nicht in der Aufwärmphase, wer am Ende das beste Ergebnis erzielt.“
Im Jahr 2004 wurde die Volljuristin, damals 28, erstmals Abgeordnete. Seitdem zog sie Wahljahr für Wahljahr wieder in den Landtag ein, wechselte 2012 mit der großen Koalition auf die Regierungsbank und ist derzeit Ministerin für Wirtschaft, Energie, Arbeit und Verkehr – ein Superministerium. Über Wirtschaft spricht Rehlinger genauso leidenschaftlich wie über Sport. Sie referiert ausdauernd über „Strukturwandel“ und „grünen Wasserstoff“.
Das sind die großen Themen, die sie als Ministerin beschäftigen. Das Saarland steckt in einem schwierigen Transformationsprozess. Jeder vierte Arbeitsplatz hat direkt oder indirekt mit der Autoproduktion zu tun. Ob der Getriebehersteller ZF, ob Bosch in Homburg, Ford in Saarlouis oder die großen Stahlunternehmen – der Übergang zur Elektromobilität und die Umstellung auf grünen Strom ist ein Stresstest für das Land.
Das Saarland der Zukunft
Ende Februar besucht Rehlinger die Firma Kettler in St. Wendel, einen Hersteller für Sportgeräte und Gartenmöbel. Hier ist ein modernes Werk entstanden, in dem bald schon E-Bikes und Pedelecs montiert werden. Das Unternehmen hat 75 Millionen Euro investiert, 350 neue Arbeitsplätze sind geplant. Das neue Werk passe perfekt „zu unserem innovativen Industriestandort“, es „diversifiziert ihn zugleich, nicht Auto oder Stahl und doch nah an der Kernkompetenz für das Saarland der Zukunft“, so Rehlinger in bestem PR-Sprech. Seit Jahren führt sie als Wirtschaftsministerin fast täglich Gespräche mit Unternehmen, Start-ups, Genossenschaften, trifft Investoren, Manager und Betriebsräte.
Auch Ministerpräsident Hans ist wegen Industrieansiedlungen unterwegs. Er will das Thema nach der Wahl zur Chefsache machen. Der Wettlauf der beiden erinnert ein bisschen an die Fabel vom Hasen und dem Igel. Die Wirtschaftsministerin ist meistens schon da. Sie ist länger dabei, zunächst als Ressortchefin für Justiz und Umwelt, dann für Wirtschaft und Verkehr. Auch Rehlinger möchte die Industriepolitik nach der Wahl in der Staatskanzlei ansiedeln, mit ihr als neue Ministerpräsidentin.
Das alles überlagernde Thema in den vergangenen Wochen war der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Am Tag nach Putins Überfall auf die Ukraine ruft Rehlinger als Wirtschaftsministerin betroffene Unternehmen, Verbände und Kammern zusammen, um sich ein Bild von den wirtschaftlichen Auswirkungen zu machen. Die Landesregierung berät Notfallpläne, bereitet die Aufnahme von Flüchtlingen vor, erörtert Gefahren durch mögliche Cyberangriffe. Am Abend nehmen Ministerpräsident Hans und seine Stellvertreterin Rehlinger an einer Mahnwache teil, eine improvisierte Protestaktion gegen den Krieg. „Angesichts der Bedrohung müssen Demokraten zusammenstehen“, sagt sie danach der taz.
Hans ist mit einem Handyvideo in die letzte Phase des Wahlkampfs gestartet. Vor einer Tankstelle wetterte er gegen die „Ausplünderung“ der Autofahrer. „Nicht nur die Geringverdiener“, sondern auch „die vielen fleißigen Leute, die tanken müssen“, sollen entlastet werden, ruft Hans mit zerzausten Haaren in seine Kamera. Das Video ging viral. Die Reaktionen: zumeist vernichtend.
Bei der SPD im Bund rieben sie sich die Augen: Auf welche schmutzigen Tricks die Genossen an der Saar zurückgriffen, nur um Hans vorzuführen, wunderte sich eine Berliner Spitzengenossin im ersten Augenblick. Doch siehe da, das Video hatte der Ministerpräsident selbst fabriziert. Mit der Attacke auf die Berliner Ampel will Hans die Wende schaffen. Doch noch bescheinigen die Umfragen nicht ihm, sondern seiner Wirtschaftsministerin den Amtsbonus.
Die nimmt Hans’ Vorlage dankbar auf, nennt die Einteilung der Menschen in „Geringverdiener“ und „die Fleißigen, die tanken müssen“, „völlig daneben“. Sie bringt sich selbst als seriöse Politikerin in Stellung. In diesen herausfordernden Zeiten sei gutes Regieren gefragt, „am Schreibtisch und in Verhandlungen, nicht als Wutbürger vor der Tankstelle“.
Rehlinger lobt den grünen Kollegen Habeck, der die Kartellbehörden eingeschaltet hat, und wendet sich gegen Forderungen nach Steuersenkungen und Tankrabatt. „Wir können doch nicht einfach nur Steuermittel einsetzen, wenn sich die Mineralölkonzerne die Taschen vollmachen.“
Corona statt Regierungserklärung
An diesem Mittwoch ist der Landtag zur letzten Sitzung in dieser Legislaturperiode zusammengekommen. Ministerpräsident Tobias Hans hatte eigentlich eine Regierungserklärung angekündigt. Doch die fällt aus, Hans ist an Corona erkrankt. „Anke“ könnte die Regierungserklärung übernehmen, regt er an. Doch die lehnt ab, twittert „Gute Besserung lieber Tobias!“ Als Sportlerin setzt sie auf Fairness. „Ich will keinen Vorteil aus seiner Erkrankung ziehen“, erklärt sie der taz.
Begleitet man Rehlinger im Wahlkampf, dann kann man den Eindruck bekommen, dass es tatsächlich klappen könnte mit dem Sieg. Der Besuch eines Infostands vor einem Supermarkt in Püttlingen ist für sie ein Heimspiel. „Anke“, die meisten duzen sie hier, geht auf die Menschen zu, verteilt Kulis an die Erwachsenen und Gummibärchen an die Kinder. Viele erkennen sie „vom Fernsehen“. Ein 83-Jähriger nähert sich Rehlinger dichtend: „Liebe Genossin, reich mir deine Flossin“, sagt er.
Aber ob es wirklich reicht, wird sich erst am nächsten Sonntag zeigen. Auch vor fünf Jahren lag die SPD vorn, im Hype um den damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Doch im Schlussspurt setzte sich Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer durch. Elf Prozentpunkte lag die CDU am Ende vor der SPD. Mit der verlorenen Saarlandwahl begann für die SPD vor fünf Jahren – mit Ausnahme von Niedersachsen – bundesweit eine Serie von Niederlagen, die schließlich in eine vergeigte Bundestagswahl mündete.
Diesmal ist es anders. Die SPD hat die Bundestagswahl im Schlussspurt gewonnen. Sechs Monate danach ist die Landtagswahl im Saarland auch ein Indikator, wie nachhaltig der sozialdemokratische Überraschungssieg im September wirklich war. Auf Rehlinger lasten daher auch bundespolitische Erwartungen. Macht ihr das zu schaffen? Nein, sie neige sowieso nicht zu übermäßiger Aufgeregtheit, sagt sie beim Treffen in der Landesvertretung: „Nervosität verhagelt die Leistung.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Mehr Zugverkehr wagen
Holt endlich den Fernverkehr ins Deutschlandticket!