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Wahlhelfer bei der EuropawahlDie Zettel in einem wirbelnden Tanz

Die einen geben ihre Stimme ab, und die anderen zählen sie. So funktioniert Demokratie. Es ist ein Freiwilligendienst, der auch zur Demutsübung wird.

Jetzt muss nur noch gezählt werden Foto: Jan Woitas/picture alliance/dpa

M anchmal tut Demokratie weh. Nicht körperlich, solange sich niemand am Stimmzettel schneidet. Aber einen viel tieferen Schmerz verursacht es, als Wahlhelfer beim Sortieren live zu erleben und sogar dazu beizutragen, dass der Haufen mit den gültigen rechtsradikalen Voten wächst, so, wie er es hier im Bremer Osten bei der Europawahl tut. Und er wächst. Und wächst.

Das ist, und du nimmst daran teil!, ein euphorischer Moment, in dem das Neue entsteht

Das tut in der Seele weh. Es verdirbt an diesem Abend ganz offenkundig die Laune von sieben Achteln des Teams. Der Achte verbirgt seine klammheimliche Freude nur unzureichend. Für die anderen wird aus dem Freiwilligendienst am staatlichen System eine Demutsübung, die schwieriger zu ertragen ist als die Teilnahme an einer Bußprozession.

Dabei ist die Tätigkeit als Wahl­helfer eine schöne Freizeitbeschäftigung. Es ist möglich, sich total gut zu fühlen. Es bedeutet, der Demokratie einen ganzen Tag zu opfern! Und zwar hast du dich um 7.15 Uhr einzufinden! Also vor 7 Uhr aufstehen! Am Sonntag! Das Amt spricht die Hel­fe­r*in­nen daher konsequent als ­Wahl­hel­d*in­nen an.

Die meisten sind anfangs auch noch etwas müde. Und alle sind rat- und planlos, was nun wie zu geschehen hat. Besonders der eigens geschulte Wahlraumvorsteher. In diesem Fall ist unser Wahlsuperheld männlich, eher Ende 40, ein bisschen spillerig und ausgesprochen red­selig. Die Superkraft „Delegieren“ ist seine nicht.

Wahlhelfer*in werden ist nicht schwer: Man muss nur selbst wahlberechtigt sein und sich bei der zuständigen Wahlbehörde am Wohnort melden. Für den Einsatz bei der Wahl gibt es ein Erfrischungsgeld. Fehlt es an Freiwilligen, können Wahl­berechtigte auch verpflichtet werden, dieses Ehrenamt zu übernehmen.

Jetzt müsste es darum gehen, den Klassenraum in ein Wahllokal zu verwandeln. Die Utensilien müssten ausgepackt, die Wahlkabinen zusammengebastelt werden. Wird die Urne nun versiegelt? Und wohin kommt am zweckmäßigsten die Stimmzettelausgabe? Ah, da ist die Braille-Schablone. Gut. Könnten wir den Zettel auch dorthin …? Und das mit der Urne, ob die jetzt versiegelt wird …? Warum fehlt eigentlich das Klebeband? Und: Wird die Urne nun versiegelt oder nicht? Während also der Zeiger der Uhr voranschreitet und die Unruhe wächst, ob der Wahlvorsteherstellvertreter noch erscheint – er schwänzt! –, fügt sich die Gesamtheit der Requisiten zu einer tipptopp gesetzkonformen Ordnung. Die Wahlurne wird abgeschlossen, nicht versiegelt.

Es ist immer alles wie beim ersten Mal. Und wahrscheinlich bewirkt diese Hektik am Anfang genau den Adrenalinschub, der nötig ist, um Punkt 8 Uhr richtig wach zu sein und den restlichen Wahltag im leichten Kreide- und Teenspirit-Mief gelassen zu durchdämmern. Denn es passiert ja fast nichts. Die Beteiligung hier liegt deutlich unter 50 Prozent. Oft ist außer dem Hel­fe­r*in­ne­nteam niemand da. Das Tafelbild verrät, dass hier Erdkunde unterrichtet wird, aber auch Spanisch. Unten im Regal stehen Bücher, 20-mal John Krakauers „In die Wildnis“. Vielleicht hätte man sich einen Pulli anziehen sollen.

Jetzt was lesen wäre auch gut. Aber immer dann, wenn angesichts der Leere das E-Book wieder aufgerufen und der Satz gefunden ist, an dem die Lektüre – in diesem Fall Marcel Proust – unterbrochen wurde, weil jemand kam, kommt jemand: Guten Tag, ja dann zeigen Sie doch mal her, nein, einen Ausweis brauchen wir hier nicht, die Wahlbenachrichtigung reicht uns schon, die Nummer da, Strich null eins, ja, da sind Sie bei uns richtig, und hier ist schon Ihr Stimmzettel, suchen Sie sich eine Kabine aus, Sie haben die freie Wahl …

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Und dann kommt das Schönste. Nach der Lokalschließung um 18 Uhr fällt alle aufgestaute Trägheit ab. Wie aus einem magischen Schlaf erwacht, schieben die Hel­fe­r*in­nen in Windeseile Tische zusammen, damit die gefalteten Stimmzettel aus der Urne dort Platz finden und in Zehnerstapeln zusammengefasst werden können. Die dann wieder, jeder nimmt sich einen, aufgelöst und mit rascher Bewegung entfaltet werden, ratsch! 75 Zentimeter lang sind die Bögen! Nun sind sie zu prüfen und in einem wirbelnden Tanz durch den Raum dorthin zu tragen, wo die gleichartigen Voten liegen. Das ist, und du nimmst daran teil!, ein euphorischer Moment, in dem das Neue entsteht.

Und dass es dann so scheiße ist, wie es ist: Das ist der Schmerz.

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Reporter und Redakteur
Jahrgang 1972. Seit 2002 bei taz.nord in Bremen als Fachkraft für Agrar, Oper und Abseitiges tätig. Alexander-Rhomberg-Preis 2002.