Wahlen in der Ukraine unter Kriegsrecht: Eine Frage der Legitimität
Am 20. Mai ist die Amtszeit des ukrainischen Präsidenten Selenskyj abgelaufen. im Krieg dürfen keine Wahlen stattfinden. Russland schlachtet das aus.
Die Diskussion über die Legitimität Selenskyjs wird in Russland weidlich ausgeschlachtet. Präsident Wladimir Putin flog am 24. Mai in die belarussische Hauptstadt Minsk und sagte, er gehe davon aus, dass die Legitimität des ukrainischen Präsidenten „erloschen“ sei. Nach einem Treffen mit dem belarussischen Staatschef Alexander Lukaschenko sagte Putin, wenn die Zeit für Friedensverhandlungen gekommen sei, „wird man verstehen müssen, mit wem man es zu tun hat, denn Selenskyjs Legitimität ist vorbei“.
Einige Tage zuvor hatten Unbekannte das Ukrainische Haus in Warschau (ein Kulturzentrum für ukrainische Geflüchtete) und das Grab des Führers der Organisation Ukrainischer Nationalisten Stepan Bandera in München mit identischen Aufschriften versehen: „Wir brauchen Wahlen!“ Die Autoren deuteten an, dass die Ukrainer*innen angeblich Neuwahlen fordern.
„Es besteht kein Zweifel daran, dass Russland versucht, die Situation auszunutzen, um Selenskyj zu diskreditieren“, schreibt der ukrainische Publizist Witaly Portnikow: „Aber vergessen wir nicht, wie der Kreml im März seine sogenannten Wahlen durchgeführt hat.“
Kein Zufall
Es ist kein Zufall, dass Putins Äußerungen und die provokativen Aufschriften gerade jetzt auftauchen. Gemäß der Verfassung der Ukraine ist die Amtszeit des Präsidenten auf fünf Jahre begrenzt. Daher hätten Selenskyjs Befugnisse am 20. Mai 2024 enden müssen.
Gleichzeitig sieht Artikel 108 der Verfassung vor, dass der Präsident seine Pflichten bis zur Wahl eines neuen Staatsoberhauptes erfüllen muss. Die Wahlen wurden nun aufgrund des Kriegsrechts verschoben. Ein einfaches Gesetz verbietet die Abhaltung von Wahlen, während Kriegsrecht gilt.
Einige Politiker im Westen, insbesondere der republikanische US-Senator Lindsey Graham, hatten gefordert, dass die Ukrainer trotz des russischen Angriffskrieges Wahlen abhalten sollten. Selenskyj antwortete im August 2023, dass es für Wahlen notwendig sei, schnell Änderungen an der Gesetzgebung vorzunehmen. Zudem würden zusätzlich 5 Milliarden Hriwna (umgerechnet 1,1 Milliarden Euro) gebraucht, um die Wahl durchzuführen.
Außerdem müssten ausländische Beobachter an die Front geschickt werden, damit das Militär abstimmen könne, und der Wahlprozess im Ausland organisiert werden. Millionen Ukrainer*innen haben das Land wegen des Krieges verlassen. „Ich klammere mich an nichts. Ehrlich gesagt würde ich gerne Wahlen abhalten“, sagte Selenskyj.
Eindeutige Reaktion
Im Westen besteht kein Zweifel an der Legitimität Selenskyjs. „Für Deutschland bleibt Selenskyj ein Staatschef mit allen Vollmachten“, sagte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock unlängst bei einem Besuch in Kyjiw im Mai.
Selbst die Reaktion der Opposition in der Ukraine ist eindeutig: Selenskyj müsse weiterhin Präsident bleiben, es sei unmöglich, faire Wahlen unter den Bedingungen des Kriegsrechts abzuhalten. Denn erstens würden die Wahldebatten das Land destabilisieren. Zweitens ist es unmöglich, die Wahl für Soldaten zu organisieren sowie am Wahltag selbst wegen ständiger russischer Angriffe die Sicherheit im gesamten Land zu gewährleisten.
Vertreter*innen der Opposition sind sich einig, dass es nicht um die Persönlichkeit des Staatsoberhauptes gehe, sondern um die Stabilität der Institution: Jegliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Selenskyjs Amtszeit im Kontext eines genozidalen Krieges um die Unabhängigkeit des Staates seien kriminell, heißt es. Dem Team um Selenskyj wird jedoch vorgeworfen, dass es sich nicht rechtzeitig an das Verfassungsgericht gewandt hat, um eine rechtliche Bestätigung der Legitimität zu erhalten.
Im Februar hatten Medien berichtet, dass sich das Präsidialamt mit folgenden Fragen an das Verfassungsgericht habe wenden wollen: Erlaubt die ukrainische Verfassung Wahlen unter Kriegsrecht und was wird mit der Legitimität des Präsidenten nach dem 20. Mai 2024 geschehen? Doch dazu sei es nicht gekommen.
Justizminister Denis Maluski sagte Anfang Mai in einem Interview mit der BBC, dass eine solche Anfrage „ein großer Fehler gewesen wäre“. Sie hätte Zweifel gesät, was unter Kriegsbedingungen gefährlich sei. Parlamentspräsident Ruslan Stefanchuk riet denjenigen, die an der Legitimität zweifeln, sich an das Verfassungsgericht zu wenden. In einem anderen Interview äußerte sich der Sprecher härter: Er nannte diejenigen, die Selenskyjs Legitimität infrage stellen, „Staatsfeinde“.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert