Wahlen in Frankreich: Endlich Frühling
Frankreichs Linke ist zerstritten. Anders in Marseille: Dort geht seit zwei Jahren ein Bündnis aus linken Parteien und Bürgergruppen neue Wege.
„Keine französische Stadt ist wie Marseille“, sagt Paire. Schon gar nicht Paris, das mit seiner Innenstadt einer luxuriös verpackten Pralinenschachtel gleicht und seine unappetitlichen Bestandteile in die Banlieue, außerhalb des Rings, verbannt hat. Marseille hat eine sozial gemischte Innenstadt, wo Wohlstand und Armut aufeinandertreffen, neben- und manchmal auch miteinander existieren. Die Misswirtschaft der 25 Jahre unter dem konservativen Ex-Bürgermeister Jean-Claude Gaudin hatte die Gegensätze zementiert. „Man muss das soziale Gewebe vorsichtig reparieren“, sagt Paire. „Im Moment gibt es Vertrauen in die Politik. Die alten Hexenmeister sind verschwunden.“ Weg vom Fenster, abgewählt, nachdem am 5. November 2018 im Stadtteil Noailles drei Häuser eingestürzt waren und eines acht Menschen tot unter sich begraben hatte.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Das Unglück wirkte wie ein Katalysator. Ein Bündnis linker Parteien und Bürgergruppierungen, Le Printemps Marseillais (Der Frühling von Marseille), eroberte bei den Kommunalwahlen im März und Juni 2020 das Rathaus. Es hält mit 51 Sitzen knapp die absolute Mehrheit im Stadtrat. Mit dabei: Abgeordnete der Grünen, Kommunisten, Sozialisten und von La France Insoumise. Nicht dabei: La République en Marche, die Partei von Präsident Emmanuel Macron. Mit dabei: kleine und größere Bürgerinitiativen und -kollektive. Nicht beteiligt: die militanten Vertreter des linken Spektrums. Sie seien nicht eingeladen worden, sagen die einen; sie hätten nicht gewollt, sagen die anderen. Ohne den Einsturz des Hauses in Noailles, da sind sich alle sicher, wäre das Bündnis nicht zustande gekommen.
Gibt es bereits sichtbare Ergebnisse der neuen Stadtführung? Trotzt man in Marseille der anhaltenden Uneinigkeit der französischen Linken? „Die Union ist fragil“, sagt Paire, „aber im Moment hält sie.“ Der Kulturjournalist steuert die Rue Thubaneau an, wo zur Zeit der Französischen Revolution der Club der Jakobiner seine Debatten austrug. Der abgewählte Bürgermeister Gaudin ließ hier, als Marseille 2013 Kulturhauptstadt wurde, ein Denkmal für die Marseillaise einrichten. Eine Multimediainstallation, die die Geschichte der heutigen Nationalhymne erzählt, die nicht immer La Marseillaise hieß. Sie entstand als Kampfliedlied für ein Bataillon, das 1792 von Marseille zur Unterstützung der Revolutionstruppen nach Paris zog. Vielleicht könnte heute ebenso ein revolutionärer Funke überspringen und der Printemps Marseillais seine Botschaft ins Land tragen, hofft Alain Paire. Er glaubt an das rebellische Potenzial seiner Stadt. Die Marseillaise wurde während der deutschen Besatzung eine Hymne des Widerstands.
Miethaie vermieten an Menschen ohne Papiere
Nahe der Börse, wo man bei der Errichtung eines hässlichen Einkaufszentrums auf die Überreste des antiken Hafens von Marseille gestoßen ist, liegt das Museum zur Stadtgeschichte. Es widmet der Marseillaise zurzeit eine Sonderausstellung. Der Eintritt ist frei – eine Maßnahme der neuen Stadtregierung. Es gibt sie also, die ersten sichtbaren Ergebnisse ihrer Politik. Im Erdgeschoss ist eine neue Abteilung entstanden, ein Museum im Museum, am Point Zéro, am „Nullpunkt“ der Geschichte Marseilles, die einen Bogen bis zu den dramatischen Ereignissen im November 2018 schlägt.
Architekturstudierende haben ein Holzmodell des afrikanisch geprägten Innenstadtbezirks rekonstruiert, Fotos, Videos und Audios berichten von katastrophalen Wohnverhältnissen und einer erzwungenen Umquartierung und Vertreibung von mindestens 2.500 Bewohner:innen des Viertels nach dem Einsturz. Wer den Erfolg des Printemps Marseillais verstehen will, muss zum Nullpunkt Noailles zurück. Was hier geschah, war weit mehr als der Zusammenbruch eines Hauses und einer korrupten Stadtverwaltung: Es traumatisierte ein höchst prekäres Viertel und eine Stadtgesellschaft, die ohnehin alarmiert und bereits vielfach aktiviert war.
Während der Gaudin-Zeit waren zahlreiche Bürgerinitiativen entstanden wie Centre Ville pour Tous (Stadtzentrum für alle), eine der ältesten, die sich um die Rettung einzelner Quartiere bemühten. „Wir wurden nicht gehört“, sagt Hélène Froment bei einem Treffen im Café L'Ecomotive direkt am Bahnhof, einem Alternativcafé, wo es vegane Speisen und freies WLAN gibt. „Das ist jetzt anders. Man hat uns im Rathaus empfangen und mit allen Initiativen eine ‚charte de relogement‘ ausgearbeitet.“ Die Charta wurde im Stadtrat verabschiedet; sie soll dafür sorgen, dass die evakuierten Bewohner:innen nach erfolgter Sanierung in ihre Häuser oder Stadtviertel zurückkehren können. „Alle haben Angst vor Gentrifizierung.“
Nicht nur die Nummer 65 in der Rue d'Aubagne erwies sich als einsturzgefährdet, viele andere Häuser waren es damals (und sind es bis heute). Bewusster Verfall, Leerstand aus Spekulationsgründen, Abriss, lukrativer Neubau, Vergabe nach Gefälligkeit: der Marseiller Klientelismus, der die Ära Gaudin prägte. Sogenannte „Marchands de Sommeil“, das französische Wort für Miethaie, vermieteten die baufälligen Wohnungen an Menschen ohne Papiere, ohne Geld – aber nicht ohne Rückhalt. Spontan entstand nach dem Einsturz das Kollektiv 5. November, hervorgegangen aus anderen Initiativen, das Demonstrationen und Solidaritätsaktionen organisierte.
Marseille hat viele Migrationswellen erlebt
In der Rue d’Aubagne klafft jetzt eine Baulücke. Starker Regen hatte 2018 dazu beigetragen, dass die schon vorher beanstandeten Risse die Häuser regelrecht zerbröseln ließen. Weitere Häuser, die schmale Straße hoch, stehen leer, verrammelte Fenster, Graffiti. Davor stehen Stühle und Tische, die Anwohner rausgestellt haben, um sich zum Gespräch niederzulassen. Vor dem Mahnmal mit den Opfern des 5. November hängen Jugendliche ab. Plakate und beschriftete Bettlaken informieren die Vorübergehenden über den Stand der Verhandlungen mit den Behörden. Die umquartierten Mieter:innen wollen zurückkehren. „Die Abgeordneten reden und reden über die Renovierung“, heißt es auf einem Plakat. Und spöttisch weiter: „Das ist gut. Doch unter dem letzten Anstrich ist immer noch die gleiche Scheiße.“
Das gesetzlich verankerte „Recht auf menschenwürdiges Wohnen“ sei bisher nicht umgesetzt worden, sagt Kevin Vacher, Jahrgang 1990, Soziologe und Aktivist des Kollektivs 5. November am Telefon. „Das Gesetz ist da. Es geht darum, es anzuwenden.“ Für ein Treffen hat er keine Zeit, er bereitet gerade die Kampagne seiner Gruppierung für die Parlamentswahlen vor, die vier Wochen nach der Präsidentschaftskür stattfinden. Im Programm: ein „Gesetz Rue d’Aubagne“, das Spekulation und Vertreibung vorbeugen soll. Die angekündigten Maßnahmen zur Sanierung der Innenstadt ließen auf sich warten, sagt Vacher noch. Seine Sympathien für die neue Stadtführung halten sich hörbar in Grenzen.
„Es fehlt an allem in Marseille“, sagt Michèle Rubirola. Die 65-jährige Politikerin weiß um die wachsende Ungeduld der Menschen. Die Grüne, deren Parteimitgliedschaft derzeit ruht, war die Nummer Eins auf der Liste des Printemps Marseillais. Ihrer Kandidatur als Grüne, die sich nicht um Parteilinien schert und nicht aus einem großen Parteiapparat kommt, verdankt der Printemps Marseillais seinen Sieg. Wenige Monate nach ihrer Vereidigung als Bürgermeisterin trat sie „aus gesundheitlichen Gründen“ zurück und überließ das Amt dem Sozialisten Benoît Payan, dem sie nun als Stellvertreterin und erste Referentin dient. Ein abgemachter Deal, glauben viele; Rubirola selbst sagt ruhig in ihrem sonnigen Amtszimmer im Rathaus: „Wir haben nur die Personalie, nicht das Programm geändert. Ich stehe für seine Inhalte.“
Draußen am Rathaus, Blick auf den Hafen, flattern Fahnen im Wind, darunter die ukrainische Flagge. Odessa ist Partnerstadt. „Wir sind ein Laboratorium“, sagt Rubirola. „Wir probieren aus. Es muss funktionieren.“ Das Laboratorium: Rund 870.000 Menschen leben in der zweitgrößten Stadt Frankreichs, etwa zehn Prozent haben keinen französischen Pass, etwa 40 Prozent Migrationshintergrund. Es gibt eine große islamische und eine nicht unwesentliche jüdische Gemeinde. Rubirola selbst hat spanische und italienische Großeltern. Marseille hat viele Migrationswellen erlebt; Anfang des 20. Jahrhunderts kamen Italiener und Armenier, in den 60er Jahren, nach der Unabhängigkeit Algeriens, zogen Algerier und Algerienfranzosen in die Region, letztere bis heute oft Anhänger von Marine Le Pen und ihrem rechtsextremen Rassemblement National (RN), der in Marseille derzeit keine Rolle spielt – ebenso wenig wie die Macronisten, die hier nie Fuß gefasst haben.
Eine arme Stadt in einer reichen Region
„Macron setzt nur auf Unternehmer, auf seine Freunde“, sagt der Marseiller Anthropologe Michel Peraldi. „Seine eigenen Abgeordneten gehören nicht zur Clique.“ Auch der linke Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon von den „Insoumis“ (Die Unbeugsamen) hat in Marseille seinen Wahlkreis, ohne hier lokal verankert zu sein. Im Gegensatz zu Macron hat er aber eine aktive Anhängerschaft, viele davon in den Kollektiven und Bürgervereinen organisiert, die ihm eine Basis verschaffen.
Marseille ist eine arme Stadt in einer reichen Region. Etwa 25 Prozent seiner Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 11 Prozent höher als im Landesdurchschnitt, in den armen Stadtteilen im Norden der Stadt geht sie teilweise rauf bis zu 40 Prozent. Hier sitzen die Jugendlichen als Späher an den Zugängen der Cités und regeln den Drogenverkehr. Sie geraten manchmal zwischen die Fronten der rivalisierenden Banden, allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres hat es acht Tote gegeben. Ist es da ein Trost, dass Ex-Bürgermeister Gaudin, inzwischen 82 Jahre alt, Ende März zu sechs Monaten mit Bewährung verurteilt wurde? Wegen Begünstigung seiner Mitarbeiter: Statt ganzer Tage arbeiteten sie nur halbe, bei vollem Gehalt; zudem schrieben sie sich Überstunden auf, die sie nie machten.
Vize-Bürgermeisterin Michèle Rubirola weiß, die Zeit rennt ihnen davon. Frühling bleibt nicht ewig Frühling, der rosafarbene Blumenstrauß auf ihrem Tisch muss wöchentlich ausgetauscht werden. Es sei nicht einfach, in einer pluralistischen Mehrheit zu arbeiten, gibt sie zu. Es gibt die großen Themen – Schulen, Wohnungen, Nahverkehr –, die angepackt werden müssen, und es gibt die kleinen Dinge, die schneller umgesetzt werden können:
Sanierung der Schwimmbäder, Solarmodule auf Schuldächern, ein öffentlich zugängliches Portal für die Vergabe von Wohnungen und Kitaplätzen mit einem klaren Kriterienkatalog. Rubirola, von Beruf Ärztin, hat einen kommunalen „Rat der Gesundheit“ ins Leben gerufen. Neuerdings gebe es Obst statt Ricard bei Empfängen – manche belächelten das, erzählt Rubirola. Sie ist überzeugt: „Die soziale Frage kann nur über die Ökologie gelöst werden.“ Deswegen strecke man die Fühler aus nach anderen grün oder links regierten Städte wie Grenoble, Lyon, Bordeaux oder Strassbourg. „Wir inspirieren uns gegenseitig.“
Ein ethischer Code
Eins der grünen Vorzeigeprojekte des Printemps Marseillais ist die Bewerbung Marseilles bei der EU, als eine von 100 „klimaneutralen“ Städten einen Probelauf zu machen. Félix Blanc, 37, von Anfang an beim Printemps dabei, arbeitet in der Abteilung, die im Rathaus die Energiewende verantreiben soll. Er formuliert es etwas anders als Michèle Rubirola: „Ich bin überzeugt, dass die Energiewende nur gelingen kann, wenn man die Armut und das Prekariat bekämpft.“ Wie das gelingen kann? Indem man Wohnungen nicht nur instandsetzt, sondern auch energetisch saniert. Damit die Menschen, die darin leben, nicht unnötig hohe Stromkosten zahlen müssen, sagt Blanc.
Blanc bekommt im Rathaus die große Verwaltungsreform aus nächster Nähe mit. Abteilungen werden zusammenlegt, abgeschafft oder neue ins Leben gerufen. Über 17.000 Mitarbeiter zählt die städtische Verwaltung, ebenso viele suchen ihre neue Bestimmung. „Man muss sie überzeugen, fortbilden, ihnen Vertrauen schenken, sie bekehren“, sagt Blanc. „Das braucht Zeit. Aber es geht voran.“ Joël Canicave, Vorsitzender der Fraktion Printemps Marseillais, erläutert am nächsten Tag die Umstrukturierung der Verwaltung: „Wir gehen sie von oben nach unten an.“ Der Kopf der Verwaltung wurde ausgetauscht, aus 14 Referaten wurden sieben, ihre Leitungen neu benannt, die Mitarbeiterzahl von 80 auf 40 reduziert.
„Wir sind auf der Hälfte der Strecke.“ Canicave gehört wie Bürgermeister Benoît Payan der Parti Socialiste an, er hat die Aufgabe, den Bürgermeister im Interview zu vertreten. Er ist der Finanzbeauftragte, ein schwieriger Job. 1,5 Milliarden Euro Schulden hat die Stadt von ihrer Vorgängerregierung geerbt, allein zwei Millionen gehen jährlich zur Rückzahlung drauf. Andere erzählen, dass nicht nur die Kassen, sondern auch Schubladen und Computer geleert waren, als der Printemps Marseillais antrat.
„Wir Abgeordneten haben uns einen ‚code de pratique‘ gegeben,“ sagt Canicave, einen ethischen Code. „Und wir wenden ihn an.“ Kein Champagner bei Empfängen, die Zahl und die Klasse der Dienstwagen reduzieren, öffentliche Leuchtkörper gegen LEDs austauschen: Das ist unspektakulär und ethisch korrekt. Canicave erklärt das klientelistische Prinzip der Vorgängerregierung und warum es „so schwer ist, aus diesem Denken herauszukommen“: Aufträge Wohnungen, Jobs – „man gab es ja Freunden“.
Es geht voran. Langsam.
Im Fall des Printemps Marseillais kommt ihnen ein neuer Freund zu Hilfe: Präsident Emmanuel Macron. Er verkündete im September in Marseille seinen Plan Marseille-en-grand: ein Paket von insgesamt 1,5 Milliarden Euro, das für mehr Sicherheit (Polizei), sanierte Schulen und verbesserten Nahverkehr sorgen soll. Der Staat gibt – und kontrolliert. Ein Partnerschaftsunternehmen wurde bereits gegründet. 174 Schulen sollen in den nächsten vier Jahren unter ökologischen Gesichtspunkten saniert werden, erklärt Canicave.
Er klingt stolz. „Es ist das erste Mal, dass der Staat in die Infrastruktur der Schulen investiert.“ Vor allem in den Schulgebäuden der Quartiers Nord mangelte es an allem: Es regnete rein, im Winter fiel die Heizung, im Sommer die Kühlung aus, die Toiletten eine Zumutung. Jetzt hängt an Marseiller Schulen ein Plakat der Stadt, das verkündet, welche Arbeiten bereits ausgeführt worden sind.
Es geht voran. Langsam. Mit Widerständen, was auch an der komplizierten Konstruktion der Zuständigkeiten liegt. Im Fall von Marseille gibt es drei Akteure: die Stadt, in der gerade Frühling ist; die Region, das Departement Bouches-des-Rhônes, wo der Printemps Marseillais im vergangenen Jahr den Einzug ins Regionalparlament verpasste; und den Metropolverbund Aix-Marseille-Provence, der mit Martine Vassal die bei den Kommunalwahlen unterlegene konservative Konkurrentin des Printemps zur Vorsitzenden hat. Die Metropole mit ihren reichen Gemeinden verfügt über deutlich mehr Geld als Marseille.
Projekte wie die Verbesserung des Nahverkehrs, zum Beispiel eine bessere Anbindung der Cités, blockiert man dort. Marseille besitzt gerade mal zwei Metro- und drei Tramlinien – der Rest steckt im Straßenverkehr und in Bussen fest. Die anderen grünen Städte hätten es leichter, sagt Rubirola, „wir haben die Metropole gegen uns.“ Und die hat das Sagen beim Müll, beim Verkehr und beim Bauen. Im vergangenen Herbst hatten wochenlange Streiks der Müllabfuhr Marseille Berge an Müllsäcken auf den Straßen beschert.
Keine gemeinsame Stimme, aber ein Programm
Michel Peraldi, emeritierter Anthropologe und Autor mehrerer Bücher über Marseille, keines davon ins Deutsche übersetzt, bezweifelt nicht, dass es dem Printemps ernst ist mit seinen Vorhaben. „Aber ich frage mich, ob es ihnen gelingt, die Mittel dafür zu mobilisieren.“ Die Mittel sind Geld, das fehlt, Geduld, die – noch – vorhanden ist, und ein Kampfgeist, der durch jahrelange Ignoranz und Misswirtschaft geschult und gestärkt worden ist. „Manchmal knallt es, manchmal passt es“, sagt Péraldi, über den Printemps. Ob denn die beachtliche Anzahl der Initiativen, die weiterhin aktiv sind, ihr großer Kollektivgeist etwas Marseille-Spezifisches hat? Péraldi glaubt: „Ja schon. Es gibt eine enorme Energie.“
Die Stadt ist stark segmentiert: reich der Süden, arm der Norden, sozial gemischt die Innenstadt. Das kann eine explosive Mischung sein. Vom Präsidentschaftswahlkampf ist auf den Straßen wenig zu bemerken. „Die Leute sind erschöpft von der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine“, sagt Michèle Rubirola. Traditionell ist die Wahlenthaltung in Marseille hoch. Macron hatte die Eröffnung seines Wahlkampfauftritts in Marseille abgesagt; er punktet lieber mit Putin-Diplomatie.
Mélenchons Veranstaltung am Strand vergangenen Sonntag war nicht rasend gut besucht. Die politischen Sympathien der Leute vom Printemps Marseillais sind so verschieden wie ihre politische Herkunft oder Zugehörigkeit. „Wir sprechen nicht mit einer Stimme“, sagt Felix Blanc, „aber wir arbeiten am gleichen Programm.“ So wird jeder von ihnen am 10. April jemand anderen wählen: auf einen gemeinsamen Kandidaten konnte sich die nationale Linke nicht einigen. Auf lokaler Ebene könnte es für eine Zeit lang klappen.
Einen Text über Marseille zu schreiben, ohne auf den Fussball und den Olympique Marseille zu sprechen zu kommen, geht nicht, hat ein Freund gesagt. Doch: geht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag