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Wahldebakel in Seoul

■ „Bewegung für faire Wahlen“ entdeckt Wahlbetrug aller Orten / Angeblich haushoher Sieg für den Regierungskandidaten Roh / 3.000 Wahlbetrügereien alleine in Seoul?

Aus Seoul Nina Boschmann

„Diese Wahl wird als die schlimmste in die Geschichte eingehen, die das Land je gesehen hat: Betrügereien, Fälschungen, Korruption wohin man blickt.“ Mit diesen Worten kommentierte gestern abend der Vorsitzende des großen Oppositionsbündnisses Mentognyon, Kim Thong Thol, den Verlauf der ersten freien Präsidentschaftswahlen seit 16 Jahren in Südkorea. Während die meisten Journalisten und ausländischen Beobachter nichts Verdächtiges entdecken konnten, lief im Hauptquartier der „Bewegung für faire Wahlen“ schon in den Mittagsstunden eine Hiobsbotschaft nach der anderen ein: sechs Mitglieder von der Bewegung Eaejon krankenhausreif geschlagen, zwei Mitglieder der Bewegung mit Beweismaterial über Betrugsmanöver von Unbekannten entführt, Mitglieder der Regierungspartei beim Überreichen von Geld und Dokumenten beobachtet, Hunderte von Wahlzetteln in der Cholla–Provinz durch falsche Tinte ungültig gemacht... Knappe 50 Prozent der Stimmen vermeldete das südkoreanische Fernsehen am späten Abend für den Regierungskandidaten Roh, Kim Young Sam soll bei 28 und Kim Dea Jung bei 21 Prozent liegen, ein Trend, der nach Wahlfälschung stinkt. Alle jene plump– dreisten Praktiken, die seit dem unrühmlichen Abgang des philippinischen Diktators Ferdinand Marcos dem Gruselkabinett einsamer Despoten anzugehören schienen, wurden gestern in Südkorea wiederbelebt. Fortsetzung auf Seite 2 Da mußten 6.000 Wähler aus der Cholla–Provinz, Hochburg des Oppositionskandidaten Kim Dae Jung, den Mittwoch unfreiwillig auf dem Busbahnhof von Seoul verbringen, weil sich den ganzen Tag weder Fahrer noch Vehikel für die normalerweise stündlich mit modernen Schnellbussen bediente Strecke fanden. Andere entdeckten bei der Ankunft im Wahllokal verblüfft, daß jemand an ihrer Stelle bereits seinen staatsbürgerlichen Pflichten nachgekommen war, während glücklichere Zeitgenossen ihr Wahlrecht gleich mehrmals ausüben durften. Alles in allem, so konstatierte die oppositionelle Dachorganisation NCD (Nacional Coalition Democracy) wurden mindestens zehn verschiedene unsaubere Praktiken von den über 100.000 freiwilligen Wahlbeobachtern im ganzen Land ausfindig gemacht. 3.000 Fälle von Wahlbetrug wurden allein in Seoul gezählt. Der dreisteste Vorfall ereignete sich, soweit bis gestern bekannt wurde, in Koro, einem Industriegebiet im Südwesten von Seoul, wo aufgeweckte Bürger vier präparierte Urnen in einem Gemüselaster entdeckten. Mehrere tausend Sympathisan ten verteidigten die Beute anschließend über Stunden hinweg, weitere Urnen unklarer Herkunft sollen sich im Büro der Bezirksverwaltung befinden. Doch quantitativ dürfte, wie zuvor befürchtet, das sogenannte Relay Voting den größten Schaden angerichtet haben. Darunter wird ein Schneeballeffekt zugunsten der Regierung durch Stimmenkauf in Verbindung mit zusätzlich präparierten Wahlzetteln verstanden. Aber auch bei Teilen der Opposition sind die Umgangsformen längst unterhalb der Gürtellinie angekommen. So verteilten Anhänger des konservativeren Oppositionskandidaten Kim Young Sam am Vorabend der Wahl mehrere hunderttausend Flugblätter, in denen behauptet wurde, Konkurrent Kim Dae Jung sei in letzter Minute zurückgetreten. Mitglieder von Kim Dae Jungs neugegründeter Partei PPD konnten kurz darauf in einer Druckerei anderthalb Millionen weiterer Pamphlete sicherstellen. So dreist die Methoden, so unklar die Ergebnisse. Obschon in der Wahlzentrale der Regierung schon ab 19 Uhr Ergebnisse und Hochrechnungen aus allen Provinzen veröffentlicht wurden, versicherten Sprecher von Kirche und Opposition glaubhaft, in Kwangju sei gar nicht mit dem Zählen begonnen worden.

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