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Wahl des StaatsoberhauptsSpannend und verdammt schade

Tim Weber von "Mehr Demokratie" war der einzige Bremer, der als Parteiloser an der Bundesversammlung teilnahm. Ein Erfahrungsbericht

Für die CDU war die Wahl eine Zitterpartie bis zum Schluss. Bild: dpa

Nach neun Stunden war die Bundesversammlung zu Ende, wir waren es auch - obgleich die meiste Zeit mit Warten verbracht wurde. Herr Wulff war zum Bundespräsidenten gewählt worden, das war doch eigentlich klar. Und doch hatten wir gehofft, dass die Sensation, die so zum Greifen nahe schien, auch eintritt.

Ich habe Herrn Gauck in knapp 24 Stunden dreimal reden hören und bin begeistert. Der üblichen Polarisierung von Regierung und Opposition setzt er etwas entgegen und verkörpert einen anderen Politikstil, der das Gemeinsame betont.

Das Ansinnen der Bürgerschafts-Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, sie bei der Bundesversammlung zu vertreten, hat mich sehr gefreut. Mit Susann Mittrenga, der Bremer Landesvorsitzenden, reisten wir am Dienstag zur Fraktionssitzung der Bündnisgrünen an. Es war ein bunter Haufen, der sich dort versammelte: Schauspieler, Musiker, Regisseure, Menschen mit Migrationshintergrund, Bürgermeister, Bürgerrechtler, Elder Stateswomen und Abgeordnete. Für die Delegierten der Bündnisgrünen gibt es wenig taktisch zu besprechen. Die Marschrichtung ist klar: Gauck, Gauck und Gauck.

Dienstagabend ist bereits spürbar, es liegt was in der Luft. Alle sind trotz der Mehrheitsverhältnisse zuversichtlich. Als Frau Hamm-Brücher - 89 Jahre alt - sich mit einem alten Schlachtross vergleicht, das sich noch einmal vom Stroh erhebt, um einen letzten Dienst zu tun, ist das ergreifend - sicher sehr pathetisch, aber das ist ihr erlaubt. Am Mittwoch fahren wir um 10.30 Uhr zum abgesperrten Reichstag.

Auf der Fraktionsebene sind so viele Kameras aufgebaut, dass es eine Herausforderung darstellte, nicht durchs Bild zu gehen. Um 11 Uhr Sitzung, die in erster Linie dem Zählappell dient: Sind wirklich alle Wahlfrauen und -männer anwesend? Müssen kurzfristig Unterlagen für einen Vertreter besorgt werden? Oder hat jemand seine Wahlkarten (blau, gelb und grün) für mögliche drei Wahlgänge vergessen? Die Nervosität ist der parlamentarischen Geschäftsführung anzumerken.

Dann gehen wir in den Plenarsaal, man trifft bekannte Gesichter aus Bremen. Ich sitze ganz hinten. 1.244 Namen werden verlesen. Die Schriftführer wechseln sich nach circa 20 Namen jeweils ab. Das dauert, ein Wahlvorgang mit Auszählen benötigt in etwa zwei Stunden. Ich bleibe sitzen, ich möchte "Weber, Tim" nicht verpassen. Fast alle stehen während des Vorgangs auf, unterhalten sich miteinander.

Für die Auszählung wird die Sitzung unterbrochen. Auf der Fraktionsebene bereitet der Catering-Service den Empfang vor, alle gehen von nur einem Wahlgang aus. Als ich wieder herunter gehe, packt der Service schon wieder ein: Daran hätte ich erkennen können, dass ein zweiter Wahlgang nötig ist.

Beim Betreten des Plenarsaales sagt mir jemand, dass es tatsächlich so sei. Ich erzähle es nicht weiter um keine falsche Hoffnung zu wecken. Aber ich muss lernen, dass Einigen das Ergebnis stets schon vorher bekannt ist. Beim dritten Wahlgang geht das so weit, dass die Agenturen Wulffs Wahl vor der Verkündung melden. Dadurch werden Spannung und Feierlichkeit der Wahl unnötig beschädigt.

Nach dem ersten Ergebnis ist die Stimmung noch unglaublich. Der Bundestagspräsident verliest das Ergebnis: Joachim Gauck: 499 Stimmen, Lukrezia Jochimsen: 126 Stimmen. Das hieße ja: Frank Rennecke hat drei und Wulff 600 Stimmen! Tatsächlich. Ein zweiter Wahlgang ist nötig. Joachim Gauck als Bundespräsident scheint möglich.

Doch nach dem zweiten Ergebnis lässt die Hoffnung nach: Wulff hat zugelegt, Gauck leicht verloren. Die lange Pause bis zum dritten Wahlgang ist den Gesprächen mit Die Linke und deren Willensbildung geschuldet. Aber die Reihen der Konservativen haben sich geschlossen. Gauck wäre der bessere Bundespräsident, aber er hat nun einmal keine Mehrheit. Obgleich ich artig dem gewählten Bundespräsidenten applaudiere, ist die Enttäuschung über die Niederlage groß. Am nächsten Morgen schmeckt sie noch bitterer.

Immerhin hat Rot-Grün gezeigt, was mit einem von der Öffentlichkeit respektierten Kandidaten ausgelöst werden kann. Und ich hoffe sehr, dass sie sich daran erinnern werden, wenn sie selbst die Mehrheit stellen.

Tim Weber, 39, arbeitet für "Mehr Demokratie", auf deren Initiative das Bremer Wahlgesetz geändert wurde.

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