Wahl des Europäischen Parlaments: Wo Politiker sich mal einig sind
Die Europawahl am 9. Juni ist bisher kaum ein großes Thema – nicht mal bei der Wirtschaft. Warum ist das so? Die taz hat sich im Wahlkampf umgeschaut.
„Leider stelle ich zur Zeit kein großes Interesse an der Europawahl fest.“ Es sind der Ort und der Mann, die diese Worte so bedeutsam machen. Es spricht Robert Rückel, der Vize-Präsident der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK). Und er sagt sie an einem Abend, an dem seine Kammer EU-Abgeordnete und Kandidaten zu einer „Wahl-Arena“ eingeladen hat.
Kein großes Interesse an Europa also auch in seinem Umfeld, der Wirtschaft? In dem Bereich, in dem die heutige EU 1957 als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft entstand? Es drängt Rückel, die knapp 120 Menschen im Saal, darunter viele Unternehmer, zum Wählen am 9. Juni aufzurufen: „Motivieren Sie auch Ihre Mitarbeiter und Belegschaften.“
Kein großes Interesse an der EU-Wahl. Wie kann das sein angesichts von gigantisch wirkenden Summen, die aus dem EU-Haushalt auch in die hiesige Region fließen? Drei Milliarden Euro seien es, die jährlich aus Brüssel nach Brandenburg kommen, hat am selben Vormittag in Potsdam der CDU-Abgeordnete Christian Ehler vorgerechnet. Er und die beiden Grünen-EU-Parlamentarier Sergey Lagodinsky und Ska Keller sitzen mit Journalisten zusammen, ziehen ein Fazit der auslaufenden Wahlperiode, schauen auf die nächste – und wirken dabei trotz inhaltlicher Widersprüche geeint in Begeisterung für Europa und Frust über wenig Widerhall.
EU-Gelder helfen im ländlichen Raum
Dabei häufen die drei Politiker Beispiele genug dafür an, wie sehr EU-Politik – und vor allem Geld – Einfluss auch im kleinsten brandenburgischen Dorf haben kann. Viele Projekte im ländlichen Raum wären beispielsweise ohne das schon 1991 gestartete „Leader“-Programm der EU nicht möglich.
Warum all das nicht zu vermitteln sei? Ehler, Lagodinsky und Keller können es auch nicht genau festmachen. Mal lenkten andere, gefühlt nähere Themen ab vom angeblich so fernen „Brüssel“, mal fehle lokalen Medien schlicht Zeit und Personal, sich in EU-Themen zu vertiefen und sie aufs Lokale zu übertragen. CDU-Mann Ehler kritisiert aber auch die Brandenburger Landesregierung, der seine eigene Partei angehört: Die hätte EU-Themen nicht einmal zum Thema einer Debatte im Landtag gemacht.
Wobei sich am nächsten Morgen zeigen wird, dass es manchen Medien grundsätzlich nicht recht zu machen ist. Der Senat tagte nämlich am Dienstag nicht im Roten Rathaus, sondern in Brüssel. Das deutet ja zumindest auf Interesse an EU-Politik hin. Aber was steht dazu im „Checkpoint“ des Tagesspiegel: „Grüße an die Reisekostenabrechnungsstelle“.
Dass überhaupt EU-Wahl ist, könnte in Brandenburg manchem erst klar werden, wenn in der Wahlkabine unter den ganzen Formularen und Umschlägen auch ein Zettel für ein Kreuz fürs Europaparlament ist. Warum das so ist, wird gleich beim Blick über die Berliner Landesgrenze klar: An der S-Bahn-Station Griebnitzsee steht zum Beispiel ein Laternenpfahl mit sechs Plakaten übereinander – nur eins davon wirbt klar für die Europawahl. Andere zeigen Köpfe für die Potsdamer Stadtverordnetenversammlung, das der Grünen wirbt irgendwie grundsätzlich für die Partei.
Parallele Kommunalwahlen
Dabei ist diese Plakatlage noch vergleichsweise übersichtlich. Denn in kleinen Ortschaften außerhalb der vier kreisfreien Städte Brandenburgs werben zudem noch Kandidatinnen und Kandidaten für den Kreistag, den Ortsbeirat und jene, die ehrenamtliche Bürgermeisterposten übernehmen oder Ortsvorsteher werden wollen. Im Extremfall sind dort am 9. Juni sechs Stimmzettel auszufüllen.
Für die EU-Wahl wirbt die SPD auch in Berlin mit dem Slogan „Deutschlands stärkste Stimmen für Europa“. Katarina Barley ist darauf zu sehen, wie vor fünf Jahren EU-Spitzenkandidatin und immerhin frühere Bundesjustizminister. Die je nach Region wechselnden Köpfe daneben aber waren bisher nicht wirklich als „stärkste Stimmen“, sondern teils gar nicht zu vernehmen.
In Berlin ist diese Stimme an Barleys Seite Gaby Bischoff, seit 2019 im EU-Parlament. Sie gehört zu den Politikerinnen und Politikern, die am Montagabend bei der Berliner IHK zusammen sitzen und in der „Wahl-Arena“ Positionen abgleichen. Es soll dort ja darum gehen, Interesse zu mehren, EU und Parlament näher zu bringen. Bei ihr wie bei anderen aber tauchen schnell Fachbegriffe und Kürzel auf, die in Brüssel und Straßburg sicherlich Abläufe erleichtern, hier aber wenig weiterhelfen.
Bischoff etwa sagt, sie plädiere für mehr Verordnungen statt Richtlinien – was wohl für mehr Verbindlichkeit stehen soll. Da wäre nun eine Umfrage im Saal spannend, wer überhaupt außer der Kandidatenrunde beide Begriffe richtig definieren könnte.
Schlichte Kritik an EU-Bürokraten
Denn es ist nicht so, dass in dieser Wirtschaftsrunde im Publikum die Kenntnis von EU-Belangen durchweg verwurzelt ist. Auch hier schwingt das alte Vorurteil vom sich nur selbst versorgenden Brüsseler Beamtenapparat mit. Ein sehr selbstbewusst auftretender Unternehmer leitet seine Wortmeldung damit ein, aus der „realen Welt“ zu berichten – im Kontrast offenbar zu EU-Parlament und Kommission.
Er meint, die 32.000 EU-Mitarbeiter um ein Drittel verringern zu können – wofür es Applaus gibt. Worauf der Grünen-Abgeordnete Lagodinsky daran erinnert, dass das vergleichsweise wenig sind, weil etwa allein in der Berliner Verwaltung über 100.000 Menschen arbeiten. Doch das ruft nur einen neuen spöttischen Zwischenruf über die hiesige Bürokratie hervor.
Auch im IHK-Saal scheint nicht durchweg klar, dass das EU-Parlament längst kein „zahnloser Tiger“ mehr ist, von dem jemand spricht. Die SPDlerin Bischoff fühlt sich merklich genötigt zu klären, dass die aktuell 705 Abgeordneten zwar keine Gesetzentwürfe einbringen dürfen – aber das Parlament könne ändern oder auch komplett ablehnen, was die Kommission vorlegt. „Was daran zahnlos ist, ist mir nicht eingängig“, sagt Bischoff.
Bei ihr und den anderen fünf Kandidatinnen und Kandidaten, die sich in der Mitte des IHK-Saals gegenüber sitzen, gibt es eine Art Zwei-Klassen-Gesellschaft. Bischoff, Lagodinsky und die CDU-Politikerin Hildegard Bentele wissen nämlich schon jetzt, dass sie in jedem Fall auch nach dem 9. Juni EU-Abgeordnete sind. Sie stehen auf den Listen ihrer Parteien derart weit oben, dass sie auch bei einem eher schwachen Stimmergebnis erneut ins Parlament rücken. Bei den beiden Vertretern von Linkspartei und FDP ist das ganz anders – sie sind chancenlos, auch wenn ihre Parteien doppelt so stark abschneiden würden wie in der jüngsten Umfrage.
Europagedanke eint auch konkurrierende Parteien
Auf der Kippe steht der AfD-Kandidat. Der bleibt außen vor, wenn seine Partei gegenüber der jüngsten Umfrage noch zwei, drei Prozentpunkte verliert. Wobei das für die Partei kein Verlust sein dürfte: Sie will ja, wie auch an diesem Abend zu hören ist, das EU-Parlament auflösen, hätte also langfristig gar keine Sitze zu verlieren.
Was am Abend bei der IHK wie auch beim Gespräch mit den Brandenburger EU-Abgeordneten in Potsdam auffällt: Jenseits großer inhaltlicher Knackpunkte wie bei der Migration oder beim Lieferkettengesetz gibt es oft beipflichtendes Kopfnicken oder eine andere Form der Zustimmung gerade bei Grünen und CDU.
Das liegt nicht nur daran, dass etwa Bentele und Lagodinsky per Du sind. Zwar tun sich auch in Landtagen oder im Bundestag gelegentlich Abgeordnete sonst konkurrierender Parteien zusammen, um ein Projekt in ihre Region zu holen. Aber bei den EU-Abgeordneten wirkt es so, als seien sie nicht allein als Parlamentarier, sondern auch als Lobbyisten des europäischen Gedankens gewählt, der oft genug zu verteidigen ist.
Wie erfolgreich der Wahlaufruf ist, am Ende nochmals von der IHK-„Wahlarena“ ausgeht, wird sich am 9. Juni zeigen. 2019, bei der jüngsten EU-Wahl, mochten weniger als zwei Drittel der Wahlberechtigten abstimmen. Die Beteiligung lag in Berlin wie in Brandenburg bei rund 60 Prozent – bei der Bundestagswahl 2021 waren es jeweils knapp über 75 Prozent.
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