: WIR SIND DIE STILLEN IM LANDE
■ Erziehungsanstalt, Handlungsbedarf und zeitgenössische Bibliothekskunden: Die AL hält Ausschau nach „Perspektiven dezentraler Kulturpolitik in Berlin“
Dezentral die Zweite könnte man nach der freitagabendlichen Podiumsveranstaltung den Samstag nennen, an dem in der Schlesischen Straße 27, beim „Verein zur Förderung der interkulturellen Aktivitäten in SO36 e.V.“ in verschiedenen Arbeitsgruppen über die Inhalte dezentraler Kulturpolitik und -arbeit in Berlin geredet werden sollte. Weil der Andrang so groß war - hier zwinkerte, da winkte ein lang nicht gesehener Kollege - „Ich bin jetzt groß und mach‘ Kulturarbeit“ -, hatte die AL die Räume des Kato angemietet. Der Schlüssel jedoch war wegen Blödheit oder einfach so in der Bürokratie verloren gegangen. So wartete man gespannt auf diverse Suchtrupps, und Frau Hartmann-Fritsch vom Vorstand der „Schlesischen 27“ füllte die peinliche Pause mit Geschichte, mit Tun und Lassen ihres Hauses.
Da also leben 80 alkoholkranke Männer, dort hat Zarah Leander gesungen und, „Ach, Theaterspielen und Rumgehampel, was die brauchen sind Ausbildungsplätze“, habe man ihnen am Anfang, '82, vorgeworfen, doch die Jugendlichen würden ja nicht in Ausbildungsinitiativen gehen, und es wäre statt dessen zu beobachten, daß sie hier - künstlerisch von echten Künstlern betreut - ein neues Selbstbewußtsein entwickelten. Schulklassen kämen wochenweise her, und die Lehrer müßten die Leitung an Künstler übergeben, und schlafen tun die Schüler hier auch, wie die 40 Franzosen, die jetzt hier wären und nachher zurückkämen, weswegen das spätere Plenum auch gleich in Gefahr war.
Anfangs wurde das Kulturzentrum ausschließlich vom Bundesverband der deutschen Industrie finanziert, genoß dann vierjährige Förderung der EG-Kommission, ist jetzt bundes und europaweit vernetzt. Als Christel Hartmann-Fritsch dann von der „Schlesischen 27“ als einer „Erziehungsanstalt für multikulturelles Handeln“ sprach, wurde einem doch ein wenig komisch, und ich stellte mir das zukünftige Berlin als eben so eine von der Industrie finanzierte Erziehungsanstalt vor.
Kennenlernen - aber wie
„Wie bringen wir uns in der Senatsvorlage unter“, aber bevor dies geklärt wurde, teilte man sich in die AGs und trottelte, weil diverse Suchtrupps den Katoschlüssel immer noch nicht hatten auftreiben können, ins Cafe, in den Park, ins Nebenzimmer oder, wie die AG „Stadtbibliothek als Kommunikationsorte“, zur Zweigstelle „Schlesische 12“. Was Bataille allerdings so empathisch als Kommunikation bestimmt, die rauschhafte Überschreitung eigener Individualität, wie die seiner Ansicht nach beim Bumsen vonstatten gehe, war hier weniger gefragt, auch wenn auf dem Tisch jemand geschrieben hatte: „Liebe ist das Schönste und Schrecklichste zugleich.“ In einem Bibliothekswerbespot geht das lachend sich gefunden habende Paar ohne ein Buch aus der Bibliothek hinaus, und letztes Jahr, als die AGB dankenswerterweise und die ganze Nacht über auf hatte, beschwerte sich das Publikum recht erbost über einen sportbuchinteressierten Bibliotheksdauergast, der sein Kommunikationsbedürfnis allzu lautstark artikulierte. (In der Tat stellen Penner einen beträchtlichen Teil zeitgenössischer Bibliothekskunden.)
„Wir sind die Stillen im Lande, uns liegt das eben nicht, laut zu werden“, sagen Bibliothekare von sich. Sie sahen genauso freundlich, warmherzig und klug aus, wie eben alle zwischen der Fahrbücherei Rosenfeld und der Bibliothekszweigstelle Oranienstraße, deren Leiterin Frauke Mahrt-Thomson das Eingangsreferat hielt und überhaupt die AG leitete. Es ging hier weniger um zu verteilende Pfründe als um die „Neueinrichtung der Stelle eines/r Verwaltungsleiters/in“, die Kultursenatorin Martiny auf Anfrage zugesagt hatte, obgleich die „Stärkung der Verwaltungsstrukturen“ dem Inhalt der Koalitionsvereinbarungen betreffs dezentraler Kulturpolitik „diametral widersprächen“, und man statt dessen doch „für jede Stadtbücherei jeweils eine Stelle für die dezentrale Kulturarbeit/stadtteilorientierte Bibliotheksarbeit“ (ÖTV, Fachkommission Bibliotheken) haben wollte.
Der Sinn der Zweigstelle
Interessanter als das Für und Wider dieser Frage „Unterbrechen Sie mich nicht ständig, Herr Pilzer“ - „Aber Frau Küpper-Morgenstern...“ - waren dann auch eher die mehr oder minder konsensfähigen Neubestimmungen der Stadtbüchereien als „Orte der Kommunikation in Zusammenarbeit mit den anderen bezirklichen Kulturträgern“ (Koalitionsvereinbarung zur dezentralen Kulturarbeit). Was immer das auch heißen mag, seit 14 Jahren seien die Bibliothekare wieder aus ihrer Resignation erwacht und werden mit Feivel, dem Mäusedetektiv den durch reitende Leichen verdorbenen Kids auf den Pelz rücken. Und ihnen, „damit das kein Kulturzirkus wird“, hernach für Gespräche zur Verfügung stehen. Bei uns wird „das Soziale an der Bibliotheksarbeit immer mehr an den Rand, in die Zweigstellen gedrängt beziehungsweise zum verzichtbaren Luxus erklärt“, sagt Frauke Mahrt-Thomson, und „die Effektivität einer Stadtbibliothek kann nicht nur an den Ausleihzahlen gemessen werden“. So macht man Veranstaltungen mit lokalen Geschichtswerkstätten, um sich mit Stadtteilinitiativen zu vernetzen, vernetzt sich selber durch die Bibliothekszeitschrift 'Laurentius‘, will und soll unterstützt werden - um zwei Millionen hat der rot-grüne Senat den Erwerbsetat erhöht und zwölf Stellen für dezentrale Bibliotheksarbeit in Aussicht gestellt -, und alles wäre gut und schön gewesen, „kein Ergebnis, dafür ein Anfang“, wie Amtsleiter Pilzer so schön sagte, wenn nicht das Plenum gewesen wäre, in dem man sich dann wiederfinden mußte.
Dort im Plenum nämlich sah man, nach „Pause und Auftritt einer Musikgruppe mit türkischen 'Saz'-Instrumenten“ (Programm) erst mal äußersten „Handlungsbedarf“, das „Wollen“ der rot-grünen Koalition in Sachen Kultur muß ja am Dienstag feststehen. Und genau diese Sprache bürokratischer Entsubjektivierung bringt einen erst mal zum Kotzen. „Wenn ich diese Wörter höre, die mit 'Bedarf‘ enden, dann weiß ich, wohin. Sie gehören zum Entscheidungsbedarf, wenn es sich darum handelt, dem Fernsehen den Maulkorb noch enger zu schnüren. Es gibt auch einen Isolationsbedarf, und der betrifft mich und meine Leidensgenossen. Und wenn Sie ein klein wenig einen Erkenntnisbedarf haben, wüßten Sie, daß es sich bei einem Isolationsbedarf um einen KZ-Bedarf handelt“, sagt Kurt Raab in Achternbuschs Wohin.
Über sieben Brücken
Die AGs berichteten: „Interkulturelle Aktivitäten“ waren nicht gefragt (fünf von 100 Teilnehmern). Wir sind alle interkulturell und sowieso begeistert, was soll da auch noch 'ne AG, in der ohnehin Geldvergaben nicht thematisiert sind. Wenn Kunst untrennbarer Bestandteil der Gesellschaft sei, wurde gesagt, könne interkulturelle Kunst die Brücke zwischen den Gesellschaften sein. Mal abgesehen davon, daß westliche Kunst - im Gegensatz zur russischen Literatur nie Bestandteil der Gesellschaft war, müßte man sich da wohl noch ein paar Gedanken machen, die darüber hinausgehen, zu warnen vor denen, die definieren wollen, was interkulturell ist und sein kann. In den anderen AGs lief es den Berichten zufolge nicht anders, da wurde es abgelehnt, auch nur irgendwelche Definitionen unklarer Begriffe zu geben, „weil das zu weit führen würde“ („soziokulturelle Zentren“), statt dessen wurde lieber schwammig von Selbstbestimmtseinwollen und der Erziehung dazu, von Vernetzungen und von der Abwehr drohender Sozialpädagogisierung, die dann auch von einem Sozialpädagogen wieder in Frage gestellt wurde, und in erster Linie in übelster Verwaltungssprache über neue Bürokratisierungen, die die Bürokratisierung abbauen sollten, geredet. Wer nun in den bezirklichen Kulturbeiräten sitzen solle - in der Mehrzahl Leute von freien Gruppen, die schon Senatsknete beziehen -, und daß die ein imperatives Mandat haben müßten, ein „kulturpolitisches Forum“ den Beiräten also vorgeschaltet sein müßte, zu dem sich das Plenum auch beinahe selbst erklärte. Und, und, und. Es schien so, als wären die Besucher ohnehin nur Leute gewesen, die dann vom mehr oder weniger großen Kuchen oder Bären was abkriegen wollten, und ich wurde immer müder und müder, grinste meinen Bibliothekarskollegen noch einmal zu und haute ab.
Detlef Kuhlbrodt
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