WENN KRIEGSGEGNER IHRE MEINUNG ÄNDERN, IST DAS O.K.: Recht auf Irrtum
Ich muss es zugeben, ich habe mich geirrt. Oder doch nicht? Im Augenblick ist nur eines sicher: Bisher war ich gegen die Einsätze in Afghanistan – und nun schwanke ich. Die plötzlichen Erfolge der Amerikaner haben mich überrascht. Muss ich mich dafür schämen, dass ich erst im Lager der Zweifler war – und jetzt zur Gegenseite überlaufe? Bin ich Opportunistin und prinzipienlos, weil mir der Krieg nicht mehr ganz so unsinnig vorkommt?
Bis vorgestern habe ich die Einwände der grünen Abweichler unumschränkt geteilt: Auch ich habe gefürchtet, dass Afghanistan vollends verwüstet wird, dass Pakistan in einem Bürgerkrieg versinkt, dass die USA keine klare Strategie verfolgen und dass ungezählte Zivilisten sterben müssen – entweder durch Bomben oder weil die Hungerhilfe sie im Winter nicht erreicht. Doch stattdessen sind die Nachschubwege für Nahrungsmittel offen, befreite Frauen werfen ihre Burkas weg, nach fünf Jahren spielen die Radiosender erstmals Musik und die Leute tanzen dazu auf den Straßen. Trifft der Krieg also „in besonderer Weise die Zivilbevölkerung“, wie sich die grünen Abweichler sorgen und wie auch ich noch vorgestern meinte? Momentan sieht es nicht danach aus. Selbst die Taliban beziffern die Zahl der zivilen Toten auf etwa 2.000 – wenn dagegen steht, dass Afghanistan zu den Menschenrechten zurückkehrt, dann ist die Bilanz der Opfer vertretbar.
Wenn. Wenn es nicht zu Racheaktionen der Nordallianz an Paschtunen kommt, die bisher die Taliban gestützt haben; wenn sich der schnelle Sieg nicht doch noch in einen jahrelangen Guerillakrieg verwandelt; wenn sich der Westen auch künftig an sein Versprechen erinnert, beim Wiederaufbau Afghanistans zu helfen.
Die plötzlichen Erfolge der Amerikaner haben eines nicht geändert: Jedes Urteil über den Krieg beruht auf Annahmen. Die können falsch oder richtig sein; wir wissen es vorher nicht. Trotzdem bleibt uns ein Urteil, eine Entscheidung nicht erspart. Ich habe mich also geirrt. Oder doch nicht? Mit viel Glück werde ich es am Ende des Krieges wissen. ULRIKE HERRMANN
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