Vorurteile gegen „Almancıs“: Höchste Zeit, das aufzuarbeiten
Seit Jahrzehnten bestehen in der Türkei Vorurteile gegen türkeistämmige Menschen in Deutschland. Unseren Autor macht das wütend. Wann hört das auf?
M eine Tante lebt jetzt schon seit einigen Jahren in Offenbach. Bei einem Besuch gibt es wie immer Tee, Çekirdek, also Sonnenblumenkerne, und ganz viel Tratsch. Weil meine Tante die meiste Zeit ihres Lebens in der Türkei verbracht hat, ist ihr Türkisch perfekt, eigentlich. Als ihr irgendwann versehentlich ein deutsches Wort rausrutscht, nimmt sie ihre Hand vor den Mund, als hätte sie sich versprochen. „Oh Gott, ich hör mich ja schon wie ein,Almancı' an.“ Daraufhin schaut sie in meine Richtung und entschuldigt sich sofort.
Denn der „Almancı“, das bin in ihren Augen ich. Geboren und aufgewachsen in Deutschland, beherrsche ich die deutsche Sprache weitaus besser als meine Muttersprache Türkisch. Wenn ich Türkisch spreche, habe ich einen deutschen Akzent. Wenn mir türkische Begriffe nicht einfallen, ersetze ich sie durch deutsche. Kurzum: Ich spreche wie ein „Almancı“.
Manchmal frage ich mich, ob es noch andere Nationen auf der Welt gibt, die ihrer Diaspora einen so abfälligen Namen gegeben haben wie die Türken. „Almancı“ bedeutet so etwas wie „Deutschländer“, weder Türke noch Deutscher, quasi ein Heimatloser.
Das Wort entstand während der türkischen Gastarbeiterwelle nach Deutschland, Österreich und die Niederlande. Zunächst gab es den Begriff „Gurbetçi“, was nichts anderes bedeutet als Auswanderer. Als sich allerdings abzeichnete, dass viele der „Gurbetçi“ nicht in die Türkei zurückkehren werden, brauchte es neue Bezeichnungen: Der „Almancı“ entstand. Und mit ihm verfestigten sich Vorurteile.
Ich rufe meine Mutter an und möchte von ihr wissen, woher diese Feindseligkeiten ihrer Erfahrung nach kommen. Meine Mutter ist erst seit Ende der neunziger Jahre in Deutschland, kennt also beide Seiten. „Wir haben immer nur gesehen, wie die 'Almancıs’ im Sommer mit ihrem teuren Wagen und Geschenken wie Kaffee oder Schokolade in die Türkei gekommen sind“, sagt sie.
Den Besuchern sei dann vorgeworfen worden, mit der D-Mark angeben zu wollen. Man habe sich darüber lustig gemacht, dass sie sich an deutsche Gebräuche angepasst hätten. „Wir haben ihnen nicht angemerkt, dass das Leben in Deutschland auch schwer war“, sagt sie. Und vielleicht ist das auch genau ihr Ziel gewesen, denke ich. Sich bloß keine Probleme anmerken zu lassen, keine Schwäche zu zeigen.
Seit der Präsidentschaftswahl vor ein paar Monaten ist der Ton gegenüber in Deutschland lebenden Türken noch etwas rauer geworden. Ihnen wird der Sieg Erdoğans angelastet. Warum die „Almancıs“ wählen, wie sie wählen, dazu kursieren teils absurde Verschwörungstheorien. Beispielsweise, dass sie nur für Erdoğan gestimmt hätten, damit es dem Land schlecht gehe und sie günstig in den Urlaub fahren könnten. „Hätten die ‚Almancıs‘ nicht gewählt, dann hätte Erdoğan nicht gewonnen“, liest man in den sozialen Netzwerken häufig.
Dabei ist das meiner Meinung nach eine klare Problemverschiebung nach außen. Denn auch die in der Türkei lebenden Türken haben Erdoğan gewählt, es ist ihre Entscheidung gewesen und sie müssen mit den Folgen leben.
Dass es auch die Vorurteile gegenüber „Almancıs“ sind, die solche Schuldzuweisungen auslösen, macht mich wütend. Es ist so einfach, über einen deutschen Akzent zu lachen, wenn man selbst nie Rassismus erlebt hat. Es ist einfach, den „Almancıs“ die Schuld zu geben für interne Probleme. Was nicht einfach ist, aber dringend nötig wäre: die seit 60 Jahren andauernde Stigmatisierung von „Almancıs“ ernst zu nehmen und aufzuarbeiten. Oğulcan Korkmaz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe