Vortragsreihe: Wenn Blasensteine erzählen
Die Sammlungen medizinhistorischer Museen enthalten viele rätselhafte Objekte - mit einer Vortragsreihe will das Museum der Charité sie zum Sprechen bringen.
Ein altes Gemälde, darauf ein Mann im schwarzen Gewand. Auf seiner flachen Hand liegt ein kartoffelartiges Ding. Was bedeutet das? "Um es herauszufinden, hilft uns als Erstes ein Text oder ein Teil davon", erklärt Marion Maria Ruisinger den rund 80 Zuhörern in der Hörsaalruine der Charité. Die Direktorin des Deutschen Medizinhistorischen Museums in Ingolstadt nimmt zusammen mit ihrem Kollegen Thomas Schnalke, dem Leiter des Medizinhistorischen Museums an der Charité, das Publikum mit auf eine Spurensuche - beim Auftakt zu der Vortragsreihe "Objekt-Geschichte(n)", die noch bis Juni 2012 dauert.
Mit Ruisinger und Schnalke kommt das Publikum schnell der Sache näher: Wer der Mann ist, erschließt sich bald. Es handelt sich um den lutherischen Theologen Johann Saubertus, so steht es auf dem Bild. Einige Zahlen schließlich - Datum, Größen- und Gewichtsangaben - lüften das Geheimnis des kartoffeligen Objekts: Es handelt sich um einen Blasenstein.
Die beiden medizinhistorischen Detektive haben auch ein echtes Exemplar aus der Sammlung der Charité mitgebracht. Groß wie ein Hühnerei ist es, seine Außenschicht hellgrau, sein Kern voll rötlich brauner Runzeln. Ruisinger und Schnalke erläutern, dass ein solches Objekt eine eigene "Biografie" besitzt, die über Aspekte der Medizingeschichte Auskunft gibt: Wem gehörte es? Warum wurde es jahrzehntelang aufbewahrt? Was sagt es über medizinische Gebräuche?
Im Mittelpunkt der Vorlesungen, die in unregelmäßigen Abständen immer dienstags stattfinden, werden weitere Objekte stehen. Etwa Moulagen - Wachsnachbildungen von erkrankten Körperteilen - aus der sexualwissenschaftlichen Sammlung von Magnus Hirschfeld oder historische Krankenakten. "Wir versuchen, mit diesen Stücken Medizin- und Wissenschaftsgeschichte zu betreiben", erläutert Thomas Schnalke. Ein Beißstock, eine Zahnprothese, ein "Schnepper", den man für Aderlässe benutzte - in den Depots ruhen unzählige Gegenstände, deren Geschichte es zu entschlüsseln gilt.
"Wenn man diese stummen Stücke nach ihren Biografien fragt, kommt man sich wie ein Kriminologe vor", sagt Schnalke. Dabei gebe es keine geregelte Methode. "In der Medizingeschichte fehlt eine ausgereifte Objektforschung", sagt Ruisinger, "aber die Sammlungsgüter stellen eine Forschungsbasis dar, die man viel mehr ausnutzen kann. Vielleicht entwickelt man dabei eine Methodik."
Eine sorgfältige Recherche hat die Beinahekriminologen zu Texten über Saubertus, den Theologen geführt. Der Mann starb an dem Blasenstein, dessen Gewicht so außergewöhnlich war, das der Stein in pathologischen Schreiben über Saubertus Tod und sogar auf einem Gemälde hervorgehoben wurde. "Der Stein muss große Schmerzen verursacht haben", sagt Ruisinger, "und die hatten im 17. Jahrhundert eine bestimmte Bedeutung: Verweisen sie auf Sünden, sind sie eine Strafe Gottes? Oder handelt es sich um eine Hiobs-Prüfung?" Dann wäre die Frömmigkeit des Theologen mit dem Stein auf die Probe gestellt worden. So führt ein medizinischer Fund zur gesellschaftlichen Interpretation von Krankheit.
Die Zahl der Besucher des Charité-Museums beweist das Interesse an Medizingeschichte, "90.000 waren es im vergangenen Jahr", sagt Schnalke. Und zur Vortragsreihe in der voll besetzten Hörsaalruine sind "nicht nur Fachleute" gekommen, weiß der Museumschef. Tatsächlich: Marco Herbst etwa ist Maschinenbauingenieur, er kommt aus Irland und lebt seit Jahren in Berlin. Hier will er ein Malaria-Museum gründen, "deswegen bin ich hier, um mir die Meister der Medizinmuseen anzuhören".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!