Sanssouci: Vorschlag
■ Ünlü aus Pforzheim mit türkischem Pathos-Rock heute im SO 36
In der Türkei führte Popmusik jahrzehntelang eine recht autarke Existenz. Noch vor zehn Jahren suchte man zwischen den Bergen von Kassetten, von deren Hüllen meist Männer mittleren Alters mit gewaltigen Schnauzbärten freundlich lächelten, vergeblich nach westlichen Namen. Erst seit kurzer Zeit gibt es überhaupt einen Markt für nichttürkische Musik, sind Madonna oder Michael Jackson ein Begriff und werden in den traditionellen Pop des Landes westliche Einflüsse integriert. Tarkan oder Sezen Aksu sind nur die hierzulande prominentesten Beispiele. Von der anderen Seite kommen Auslandstürken und integrieren ihre elterlichen Einflüsse in die Musik der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind. So füllen die Kreuzberger Cartel mit ihrem HipHop, der spielerisch orientalische Klänge und Melodielinien adaptiert, in der Türkei ganze Fußballstadien.
Die seit den 70ern, als es noch Erkin Koray oder Baris Manco gab, ziemlich verwaiste Rockecke zu besetzen, haben sich nun Ünlü aufgemacht. Tayfun und Mehmet Ünlü, geboren in der Türkei und aufgewachsen im Schwäbischen, spielten in der ersten und höchstwahrscheinlich auch einzigen türkischen Punkband in Deutschland, bevor sie zusammen zur Freude der Eltern ein Innenarchitekturbüro aufmachten. Doch kaum haben sich die Eltern wieder in die Türkei verabschiedet, tanzten die Brüder zu Hause auf den Tischen, suchten sich zwei deutsche Freunde und machten eine Kapelle auf.
Würde Tayfun allerdings nicht auf Türkisch singen, hätte man Probleme zu erkennen, vor welchem Hintergrund hier Musik entsteht. Ünlü machen derben Schweinerock, bei dem Gitarren noch richtige Gitarren sein dürfen, und die Soli klingen, als seien sie tatsächlich mit schmerzverzerrten Gesicht gedudelt. Feiste Keyboardwände und sattes Schlagzeug, alles immer eine Spur zu dick aufgetragen, Gesangslinien, die vor kaum einem 70er Klischee zurückschrecken. Leider nur selten finden sich Songs, in die das Pforzheimer Quartett türkische Elemente integriert. So in „Estarabim“, ihrer Liebeserklärung an Istanbul, wo Hardrockgitarren und orientalische Gesangslinien stellvertretend für das Aufeinandertreffen der Kulturen in der zwischen Europa und Asien geteilten Stadt stehen. Der Rest ist WahWah-Pedal und gewaltiges Pathos im fetten Sound der 90er. Schade eigentlich. Thomas Winkler
Heute, 20 Uhr, SO 36, Oranienstraße 190, Kreuzberg
Etwas zu fett. Nicht sie, sondern ihre Musik Foto: Polydor
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