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Vorratsdaten-UrteilTelefonieren ist Privatsache

Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verstößt gegen das Grundgesetz, entschieden die Verfassungsrichter. Doch die Freude der Kläger über das Urteil ist "nicht ungetrübt".

Hat kein "bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins" verdient. Bild: frank martin dietrich / photocase

KARLSRUHE taz | Auf den ersten Blick wirkt das Urteil radikal. Die 2008 eingeführte Vorratsdatenspeicherung ist verfassungswidrig und nichtig, entschied am Dienstag das Bundesverfassungsgericht. "Unverzüglich" müssen die gespeicherten Daten gelöscht werden, also sofort. Die Vorratsspeicherung verstößt aber nicht generell gegen das Grundgesetz. Wenn sie rechtsstaatlicher ausgestaltet wird, kann sie vom Bundestag bald wieder eingeführt werden. "In Karlsruhe ist die Freude nie ungetrübt", sagte Constanze Kurz vom Chaos Computer Club.

Die Richter ließen keinen Zweifel, dass die anlasslose Speicherung aller Telefon-, Mail- und Internet-Verbindungsdaten einen "schweren Eingriff" ins Grundrecht auf Telekommunikationsfreiheit darstellt. Mit Hilfe der Standortdaten des Handys können Bewegungsprofile erstellt werden. Die Telefon- und Mailkontakte enthüllen persönliche Netzwerke. Anrufe bei Beratungsstellen offenbaren Schwächen aller Art. Die Speicherung sei geeignet, "ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetwerdens" auszulösen, sagte Hans-Jürgen Papier, der scheidende Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Doch die Kläger - Politiker von FDP und Grünen sowie Bürgerrechtler vom AK Vorrat - freuten sich nur kurz über diese Bestätigung ihrer Kritik. Denn Papier fügte hinzu, dass die Vorratsdatenspeicherung "nicht von vornherein verboten" sei. Schließlich hätten Telefon und Internet auch ein "spezifisches Gefahrenpotenzial". Sie erleichtern die unbeobachtete Kommunikation und ermöglichen "verstreuten" Kriminellen die effektive Zusammenarbeit.

Vorratsdaten

Gespeichert: Die Vorratsdatenspeicherung betrifft jeden, der telefoniert, E-Mails schreibt und sich ins Internet einwählt, also die gesamte Bevölkerung. Sechs Monate lang wird gespeichert, wer mit wem wie lange telefoniert hat. Auch wird registriert, wer wem wann eine Email geschrieben hat. Außerdem werden die Standortdaten von Mobiltelefonen festgehalten. Und schließlich wird registriert, wer sich wann ins Internet eingeloggt hat und welche IP-Adresse ihm dabei zugewiesen wurde.

Nicht gespeichert: Dabei wird allerdings der Inhalt der Telefongespräche und der E-Mails nicht gespeichert. Auch wird bei der Vorratsdatenspeicherung nicht registriert, welche Seiten im Internet angesehen wurden.

Zwangsgespeichert: Die zwangsgespeicherten Daten verbleiben bei den Telefon- und Internetfirmen. Die Polizei kann nur dann auf die Daten zugreifen, wenn ein konkreter Verdacht oder eine Gefahr besteht. Im Prinzip bleibt diese Vorratsdatenspeicherung auch nach dem Karlsruher Urteil möglich. Sie ist allerdings ausgesetzt, bis der Bundestag ein neues Gesetz beschlossen hat. (chr)

Allerdings nutzten die Verfassungsrichter ihr Urteil, um Grenzen aufzuzeigen. Eine Verlängerung der sechsmonatigen Speicherdauer sei kaum möglich. Die Daten müssten auch weiterhin dezentral bei den Firmen gespeichert werden und nicht zentral beim Staat. Der Spielraum für neue anlasslose Speicherungen sei nun geringer, so die Richter. Eine totale Erfassung und Registrierung der Bürger sei mit dem Grundgesetz nicht zu machen, sonst wäre die "verfassungsrechtliche Identität" Deutschlands bedroht. Ein klarer Wink an die EU, wo gerade die 13-jährige Speicherung von Fluggastdaten geplant wird. Ein klares "bis hierhin und nicht weiter" enthält das Urteil aber nicht.

Für die Neuregelung der Speicherung von Telekom-Daten machen die Richter des Ersten Senats konkrete Vorgaben. Erstens müsse der Bund den Datenschutz bei Telefon- und Internetfirmen strenger regeln, damit Daten nicht missbraucht werden können. Den Firmen müsse auch mit wirkungsvollen Sanktionen gedroht werden.

Zweitens sollen die anlasslos gespeicherten Daten nur zum Schutz "überragend wichtiger Rechtsgüter" eingesetzt werden, etwa zur Verfolgung "schwerer Straftaten". Welche Straftaten das konkret sind, muss der Bundestag noch festlegen. Karlsruhe betonte hier den Beurteilungsraum des Gesetzgebers. Aus Mediensicht ist interessant, ob auch die "Verletzung von Dienstgeheimnissen" in diesem Katalog aufgelistet wird. Wenn ja, wäre der Informantenschutz der Presse gefährdet.

Bei der Abwehr zukünftiger Bedrohungen verlangt das Gericht eine "konkrete Gefahr" für die Staatssicherheit oder Leib, Leben und Freiheit einer Person. Dies führt dazu, dass Geheimdienste wie der Verfassungsschutz grundsätzlich nicht auf die Vorratsdaten zugreifen können, da sich ihre Aufklärung in der Regel im Vorfeld konkreter Gefahren bewegt. Der lange geäußerte Wunsch des Bundesamts für Verfassungsschutz, das auch Zugriff haben wollte, dürfte damit obsolet sein.

Drittens forderten die Richter ein grundsätzliches Übermittlungsverbot von Daten, die den Kontakt zu anonymen Beratungsstellen dokumentieren. Gemeint sind etwa die Aids- und Drogenberatung, aber auch die kirchliche Telefonseelsorge. Die Richter verlangen aber nicht, alle Ärzte, Pfarrer und Journalisten in das Übermittlungsverbot einzubeziehen.

Deutlich weniger streng sind die Verfassungsrichter, wenn es um die Identifizierung von IP-Adressen geht. Relevant ist dies etwa, wenn jemand wissen will, wer sich in einer illegalen Musiktauschbörse mp3-Dateien besorgte. Laut Gesetz kann die Staatsanwaltschaft vom Provider verlangen, dass er mit Hilfe der zwangsgespeicherten Daten offenlegt, welchem Kunden die IP-Adresse im fraglichen Zeitraum zugewiesen war. Gegen diesen Mechanismus, der die Anonymität des Internets bei Bedarf aufhebt, hatte das Gericht kaum Einwände. So kann dies nicht nur bei schweren Straftaten, sondern bei jedem Delikt genutzt werden. Nur bei kleineren Ordnungswidrigkeiten soll die Identifizierung nicht möglich sein. Auch ein Richtervorbehalt wird hier nicht verlangt. Begründung: Mit einer so punktuellen Abfrage könne kein Persönlichkeitsprofil erstellt werden.

Keinen Erfolg hatte auch die Beschwerde über die hohen Investitionskosten bei Internet- und Telefonfirmen. Karlsruhe lehnte es ab, dem Staat die Kosten für neue Speicherkapazität und Software aufzuerlegen. Wenn die Firmen aus der Privatisierung der Telekommunikation Gewinne ziehen, müssten sie auch für die Überwachungskosten aufkommen, so die Richter.

Eine Vorlage des Falles zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) lehnten die Richter als überflüssig ab. Wenn das deutsche Gesetz nicht gegen das Grundgesetz verstoße, sei es "nicht entscheidungserheblich", ob die EU-Richtlinie mit europäischen Grundrechten vereinbar ist. Der AK Vorrat und die Grünen hatten eine Vorlage zum EuGH gefordert.

Das vom linksliberalen Johannes Masing vorbereitete Urteil fiel im Kern mit sechs zu zwei Richterstimmen. Die beiden Konservativen Richter Wilhelm Schluckebier und Michael Eichberger hielten das Gesetz für verfassungskonform. Vier Richter wollten das beanstandete Gesetz wenigstens übergangsweise weiter anwenden. Da vier Richter aber keine Mehrheit sind, trat die übliche Folge ein: Das verfassungswidrige Gesetz ist "nichtig".

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7 Kommentare

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  • J
    jps-mm

    Wir brauchen härtere Gesetze

     

    Wieder einmal haben sich insbesondere die "großen" "Volks"-Parteien in Karlsruhe eine blutige Nase geholt. Wieder einmal musste das BVerfG dafür sorgen, dass ein verfassungswidriges Gesetz zurückgenommen wird. Und wieder einmal sieht man die Verantwortlichen grinsen und schon den nächsten verfassungswidrigen Coup planen.

    Wir brauchen härtere Gesetze. Wirklich. Wir brauchen ein Verfassungsstrafrecht. Wer sich am Zustandekommen eines verfassungswidrigen Gesetzes beteiligt (indem er es im Bundestag einbringt, indem er im Bundestag zustimmt, indem er im Bundesrat zustimmt, oder indem er als Bundespräsident seine Unterschrift drunter setzt), muss dafür zur Verantwortung gezogen werden. Zum Beispiel durch den Verlust seines Mandats und den Verlust des passiven Wahlrechts für ein paar Jahre.

    Klingt vielleicht hart, ist aber nötig. Solange es keinerlei Konsequenzen hat, verfassungswidrige Gesetze zu beschließen, werden die Banditen lustig weiter machen

  • J
    jps-mm

    Das Gericht in Karlsruhe streut Bürgern Sand ins Auge

     

    Das Urteil bedeutet einen höchst bedauerlichen Richtungswechsel in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Denn "die verdachtslose Speicherung aller Telekommunikationsdaten sämtlicher Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik, die das Verfassungsgericht heute für grundsätzlich zulässig erklärt hat, widerspricht dem Sinn und der historischen Funktion der Grundrechte."

    Die Entscheidung dieses Gerichtes stellt einen Leitfaden dar, um die bereits eingetretene drastische Verschlechterung der Menschenrechtslage zu zementieren.

    Noch schlimmer: Das Gericht in Karlsruhe zeigt nicht den geringsten Willen, den von der Merkel fortgesetzten Bürgerrechtsverletzungen schwerster Art eine unüberwindliche Schranke zu setzen.

    Die Bürgerrechte sind in Deutschland bereits längst ausgehöhlt und die Restbestände der Verfassung bleiben faktisch außer Kraft gesetzt. Mit dieser Entscheidung zeigt sich das Gericht in Karlsruhe (erneut) als das Gericht eines asozialen Unrechtsstaates.

  • JB
    Joachim Bovier

    Die Reaktion von Bundesinnenminister de Maiziere und des CDU/CSU Fraktionssprechers Bosbach auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist schon einigermassen dreist. Das gilt mehr noch für die Bundeskanzlerin, die meint sich über die verfassungsrechtliche gewollte Gewaltentrennung hinwegsetzen zu dürfen. Ihre Gerichtsschelte kommt einer nicht hinnehmbaren Missachtung der obersten juristischen Instanz des Landes gleich. Da wurde der Vorratsdatenspeicherung mit der Nichtigkeitserklärung die rote Karte in einer nicht zu überbietenden Deutlichkeit gezeigt, die CDU/CSU will aber einfach mit ein paar kosmetischen Korrekturen weitermachen. Vorbildlich und lobenswert dagegen die besonnene und juristisch angemessene Reaktion der Bundesjustizministerin, das Urteil erst einmal gründlich zu prüfen und auf eventuelle Konsequenzen abzuklopfen. Frau Leutheusser-Schnarrenberger sollte sich nicht unter Druck setzen lassen. Es ist ein Glückfall für unsere Demokratie, das diese liberale Ministerin oberste Herrin des Rechts in der Exekutive ist.

  • TF
    the fnord

    Nur ein sehr kleiner Sieg. Die Vorratsdatenspeicherung gehört komplett abgeschafft. Und das wirklich Gruselige steht uns noch bevor: ACTA heißt das Ungeheuer. Darüber wird ja auch unter Hochdruck hinter verschlossenen Türen gebrütet. Wenn das durchkommt (und das wird es wahrscheinlich), dann gute Nacht.

  • SP
    Stefan Prystawik

    Kehrt die Rechtsstaatlichkeit unversehens zurück?

     

    Überraschung selbst bei der deutschen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger:

     

    Das Bundesverfassungsgericht hat ein Machtwort gesprochen. Die Datenvorratsspeicherung ist weder angemessen noch verfassungsgemäß.

     

     

    Der überwachte Bürger hatte ja schon kaum noch an die drei Säulen des Staates geglaubt, bei einer allgegenwärtigen, allmächtigen und nun auch noch allwissenden Exekutive – Bürokratie als faktische Staatsform.

     

     

    Es ist gut und es ist richtig, dass solchen freiheitsraubenden Machtexzessen nun vom höchsten deutschen Gericht Einhalt geboten wird. Hier hatte die Politik in Form der Großen Koalition angesichts demokratiefeindlicher Begehrlichkeiten glatt versagt.

     

     

    Nun muß kräftig nachgebessert werden – die Bürger sollen schließlich weiterhin vor den Feinden des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats geschützt werden – vor den äußeren wie vor den inneren.

  • E
    Eedelweiß

    Immer wieder muss das BVerfG die Politiker in die Schranken verweisen und die Rechte der Bürger schützen und das obwohl die Juristen die größte Berufsgruppe (23 %) unter den Abgeordneten ist. Die Strategie scheint zu sein, möglichst verfassungsunkonforme Gesetze zu verabschieden, die dann vom BVerfG auf Normalmass gestutzt werden. So bekommt man zum einen automatisch das, was am restriktivsten und soeben noch verfassungskonform ist.

     

    Vor diesem Hintergrund kann man der Regierung nur eine verfassungsfeindliche Gesinnung attestieren. Was ist das für ein Staat der alle seine Bürger unter Generalverdacht stellt? Speziell Frau Merkel, sollte trotz oder gerade wegen ihrer DDR-Vergangenheit wissen, daß Telefonieren Privatsache ist. Es geht hier um das Leben der Anderen!

     

     

     

    PS: George Orwells 1984 war eine Mahnung keine Anleitung.

  • D
    DenkSchlächter

    Ja, liebe Gesetzgeber/innen, so eine kraftvolle, laut schallende Ohrfeige tut weh. Soll es auch!

    Schön, daß es ein solches BVG gibt, das völlig überdrehte und grundgesetzwidrige Gesetze Erlassende einbremst. Noch schöner wäre nur, wenn daß Gericht die Täter auch zum Teufel jagen könnte.

    Doch es ist leider nicht nur der Staat, der krakenhaft mit seiner Daten-Sammelwut die Menschen in unerträglicher Weise überwacht. Hier ist ebenfalls dringender Handlungsbedarf!

    Ansonsten entspricht das nun so gründlich ins Dirndl gegangene Gesetz den leider inzwischen gängigen Gepflogenheiten:

    Nachlässigkeit gepaart mit Unvermögen und Klientel-Gefälligkeiten, verbunden mit dümmster Arroganz, gezielter Ungerechtigkeit verbunden mit Wählertäuschung, das Alles muß ein Ende haben!

    Raus mit Lobbyisten, Mövenpick-Gefälligkeitspolitikern und ähnlicher Baggage, raus mit den Polit-Clowns die das Ganze nur als Nebeneinkunft sehen und lieber 7.000,- € Vorträge halten, rein mit ehrlichen, sachlichen und kenntnisreichen Leuten, die sich noch gern an ihren Amtseid erinnern und ehrlich ihre Diäten verdienen.