Vorkämpferin einer anderen Psychiatrie: Die zwangssterilisierte Braut Christi
Dorothea Buck wurde in Nazi-Deutschland zwangssterilisiert. Als Vorkämpferin für eine andere Psychiatrie fordert sie heute: "Redet mit den Patienten".
HAMBURG taz | Als kleines Mädchen hat Dorothea Buck dem Theologen Fritz von Bodelschwingh Geld geschickt. Für die Kinder, die er in der Anstalt Bethel betreute. Fritz von Bodelschwingh hat persönlich einen Dankesbrief an sie geschrieben. "Ein reizender Brief", sagt sie. 1936 wird Dorothea Buck in seiner Anstalt zwangssterilisiert. Da ist sie 19 Jahre alt.
Dass das, was man ihr als kleinen Eingriff angekündigt hat, eine Sterilisation war, erfährt sie zufällig von einer Mitpatientin. Als Zwangssterilisierte darf sie in Nazi-Deutschland keinen nichtsterilisierten Mann heiraten, sie darf keinen Beruf ausüben, bei dem sie mit Kindern zu tun hat. Dorothea Buck wollte Kindergärtnerin werden. Sie wollte eigene Kinder haben.
Sie überlebt, weil sie sich sagt, dass sie ihr Leben beenden kann, wenn es ihr nicht gelingen sollte, aus den Trümmern etwas Neues zu schaffen. Erst gibt sie sich ein Jahr. Dann zwei, dann fünf. Sie wird Bildhauerin, sie kann sich selbst ernähren von den Aufträgen. Und sie wird zu einer der Vorkämpferinnen einer anderen Psychiatrie. Einer, in der die Betroffenen gehört werden.
wird 1917 als Tochter eines Pfarrers in Naumburg a. d. Saale geboren. Mit 19 Jahren erlebt sie ihre erste Psychose. Aufgrund des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" wird sie 1936 in den von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel zwangssterilisiert.
Weitere Psychosen führen dazu, dass sie immer wieder in psychiatrische Anstalten eingewiesen wird. 1959 erlebt sie ihren letzten Schub.
Sie ist Miterfinderin der alternativen Psychoseseminare, 1992 begründet sie den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener mit. Im Jahr 1997 erhält sie das Bundesverdienstkreuz. (grä)
Es ist sehr idyllisch bei Dorothea Buck. Sie wohnt in einem kleinen Gartenhaus in Hamburg, drinnen sind einige ihrer Plastiken aufgestellt, draußen sieht sie auf die Vögel. Sie hat Tee gekocht und erklärt, welches die guten Kekse auf dem Teetisch sind. Sie ist sehr lebhaft, bei der Güte der Kekse wie beim Zorn über die Unbelehrbaren in der Psychiatrie, und diese Unterschiedslosigkeit gibt ihr einen alterslosen Charme. Aber die Mühe des Alters hat sie erreicht. Sie ist 93 Jahre alt, sie kann kaum mehr gehen. "Es ist genug mit dem Leben", sagt sie. Trotzdem - oder deshalb hat sie jetzt eine Stiftung gegründet, sie empört sich über Guido Westerwelles Hartz-IV-Schmarotzer-Geschwätz, sie erzählt Wissenschaftlern und Journalisten von der Psychiatrie unter den Nationalsozialisten.
Die Stiftung hat einen umständlichen Namen, "Gegen Euthanasie und Zwangssterilisation und für Ex-in". Ex-in steht für "experienced involvenment" und ist ein Projekt, in dem Betroffene zu Gesundheitshelfern ausgebildet werden. Es ist die praktische Essenz dessen, was Dorothea Buck seit Jahrzehnten fordert. "Da wird aus dem Ich-Wissen ein Wir-Wissen", sagt Dorothea Buck. "Und nun ist es nicht mehr nur krank und defizitär, sondern ein Erfahrungsschatz".
Dorothea Buck ist neunzehn Jahre alt und lebt mit ihren Eltern und den Geschwistern auf der Insel Wangerooge, als sie zum ersten Mal eine Psychose erlebt. Ihr Vater ist Pfarrer, sie selbst in einer Glaubenskrise: Sie hat das Gefühl, ihr fehle es an gelebtem Christentum. Sie macht gerade die Wäsche, als es sie überfällt. "Ich war so erschrocken", sagt sie, "es war diese Gewissheit, die mich so zu Boden gedrückt hat".
Es überfällt sie das Wissen, dass es Krieg geben wird, dass sie einmal etwas zu sagen haben wird und dass sie Braut Christi ist. Dorothea Buck lacht, als sie das sagt, "Braut Christi, das haben ja viele Betroffene, viele Verrückte haben religiöse Erfahrungen".
Ihre Mutter bringt sie zu ihrem alten Hausarzt nach Bremen, der sie röntgt und einen Aufenthalt in Bethel empfiehlt. Dass Fritz von Bodelschwingh schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten gesagt hat, er würde "im Gehorsam gegen Gott die Eliminierung an anderen Leibern vollziehen, wenn ich für diesen Leib verantwortlich bin", das wissen die wenigsten. Eliminierung an anderen Leibern, das wird Sterilisation bedeuten und, sollten die Patienten nicht die erforderliche Arbeitsleistung erbringen, dann wird es in vielen Anstalten Mord bedeuten. Zumindest das versucht man in Bethel zu verhindern.
Kaltes Wasser
Dorothea Buck glaubt, dass man hier mit ihr über ihre Erfahrungen sprechen wird. Bethel ist doch ein religiöses Haus und sie hat eine religiöse Erfahrung gemacht. Gegenüber ihrem Bett ist ein Spruch auf die Wand gemalt: "Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken." Aber Erquickung bedeutet hier, dass ihr kaltes Wasser über den Kopf gegossen wird, man bindet sie so fest in nasse Tücher ein, dass sie sich nicht mehr bewegen kann. Dorothea Buck singt den Luther-Choral: "Und wenn die Welt voll Teufel wär", aber es hilft ihr nichts. Man redet nicht mit ihr. Und ihre Familie? Die glaubt, dass die Ärzte verantwortungsvoll handeln. Es gibt eine Anhörung vor der Sterilisation: Ihre Tochter werde entweder operiert oder müsse bis zum 45. Lebensjahr in die Psychiatrie, sagt man ihrer Mutter. Danach gilt sie nicht mehr als gebärfähig. Die Mutter schweigt gegenüber der Tochter.
Dorothea Buck redet über das Unrecht, das man ihr angetan hat, über die Schübe, über das Schweigen. Und es ist dieses Reden, das dem Unrecht nachträglich so etwas wie einen Sinn gegeben hat. Man braucht ein glückliches Naturell, um es so zu sehen. Dorothea Buck kann das, und manchmal hilft sie dem nach und sagt sich, dass man ja nicht wissen könne, ob man seine Kinder gut erzogen hätte. Einem Mann, dem sie als junge Frau nahegekommen war, hat sie damals gesagt, sagen müssen, findet sie, dass sie keine Kinder bekommen kann. Er heiratet eine andere.
Dorothea Buck sagt, dass es damals wie heute ein Zweiklassensystem für die Psychiatriepatienten gebe: Eine Depression sei für viele Menschen nachvollziehbar - eine Psychose nicht. Die Psychotiker, das sind die Verrückten. Dabei erlebt sie selbst ihre Psychosen als sinnvoll. Als Aufbruch eines Unbewussten, das auf einen ungelösten Konflikt hinweist. Aber sie ist sich bewusst, dass es anderen anders geht. Dass Betroffene Angst haben, wenn sie Stimmen hören, dass andere Medikamente als hilfreicher erleben, als sie das tat. Dass die anderen, die Normalen, das Erleben in den Schüben nicht nachvollziehen können, wenn für sie die Welt plötzlich einen symbolischen Zusammenhang hat.
1946 kommt Dorothea Buck ein zweites Mal nach Bethel. Dort trifft sie die Ärzte, die schon unter den Nazis praktiziert haben. Die Patienten werden nicht mehr zwangssterilisiert, aber jahrzehntelang wird ihnen, wie in vielen anderen Kliniken auch, nahe gelegt, sich freiwillig sterilisieren zu lassen. Es wäre so naheliegend, diesen Ort für immer zu verfluchen. Aber Dorothea Buck ist viel zu genau dafür, sie hat den größten Teil ihres Lebens dafür gekämpft, dass die anderen genau hinsehen. Also sagt sie, dass es ihr beim zweiten Mal gut gegangen sei in Bethel. Gespräche gibt es wieder nicht, aber sie wird nicht künstlich stillgehalten, sie darf modellieren. Aber noch 1965 kann Friedrich von Bodelschwingh, der Neffe von Fritz von Bodelschwingh, die Forderung nach einer Rehabilitierung der Zwangssterilisierten als "krankheitsbedingte" Vorstellung zurückweisen. Ohne dass sich jemand darüber empören würde.
Dorothea Buck findet, dass die Verrückten den Normalen etwas voraushaben: Fantasie, einen Sinn dafür, die Dinge ganz anders zu betrachten. "Bei den Normalos weiß man immer schon, was kommt", sagt sie. "Sie machen Reisen, sie machen dies und das, aber es kommt nie etwas, das so persönlich ist." Ende der 80er-Jahre taucht sie in einem Seminar von Thomas Bock auf, dem Leiter der psychiatrischen Ambulanz in Hamburg. Sie ist ungewöhnlich selbstbewusst gegenüber einer Psychiatrie, die Menschen mit Psychosen zuallererst einimpft, dass sie krank und defizitär seien. "Aber zugleich war die Zeit reif für eine Veränderung", sagt Thomas Bock. "Die Betroffenen schrien danach, gehört zu werden." Gemeinsam entwickeln sie die trialogischen Psychose-Seminare: einen Austausch zwischen Betroffenen, Angehörigen und den professionell in der Psychiatrie Beschäftigten. Das Konzept macht bundesweit Schule.
Erfolgreiches Buch
1992 gründet Dorothea Buck mit anderen Betroffenen den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener. Zwei Jahre zuvor hat sie ihre Biografie veröffentlicht: "Auf der Spur des Morgensterns: Psychose als Selbstfindung" heißt es. Es erscheint unter Pseudonym. Sophie Zerchin, so nennt sie sich, ist ein Anagramm des Wortes Schizophrenie. Hans Krieger, ein befreundeter Journalist, hat sie lange zu diesem Buch gedrängt. Aber sie zögert: "Ich habe hier meine Kollegen", denkt sie. "Wenn ich mich als Verrückte entlarve, das geht gar nicht." Das Buch wird ein Erfolg, man lädt sie zu Vorträgen und Lesungen ein. Die nächste Ausgabe erscheint unter beiden Namen: Dorothea Sophie Buck-Zerchin steht darauf.
Wenn sie von der Bewegung für eine andere Psychiatrie erzählt, klingt es so, als habe sie offene Türen eingerannt, aber Thomas Bock, der sie seine "wichtigste Lehrerin" nennt, sagt, dass einige dieser Türen Drehtüren sind. Dann sagen Ärzte, die Dorothea Buck haben sprechen hören: "Wenn diese Frau so reden kann, dann hat sie keine klassische Psychose."
An Bethel hat Dorothea Buck noch einmal einen Brief geschrieben. Sie hatte gelesen, dass Patienten dort häufiger und länger gefesselt würden als in anderen Einrichtungen. Sie kenne einen dänischen Experten, ob man nicht mit ihm sprechen wolle, um andere Wege zu gehen, fragt sie. Sie bekam keine Antwort. Aber noch immer überweist sie Bethel jedes Jahr 50 Euro. Zu Weihnachten.
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