Vorermittlungen gegen NS-Verbrecher: Alter schützt vor Strafe nicht
Gegen 30 KZ-Wachleute soll wegen Beihilfe zum Mord ermittelt werden. Die juristische Offensive kommt spät. Einige von ihnen sind älter als 90 Jahre.
FREIBURG taz | Die noch lebenden Wachleute von Auschwitz-Birkenau müssen doch noch mit Strafverfolgung rechnen. Die Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen hat 30 Fälle ermittelt, die sie jetzt an Staatsanwaltschaften in ganz Deutschland abgibt. Sieben weitere Fälle betreffen ehemalige Aufseher, die im Ausland leben.
Auschwitz war das größte Vernichtungslager der Nazis. Etwa 1,2 bis 1,6 Millionen Menschen, vor allem Juden, wurden dort ermordet. Von den rund 6.000 SS- und Wehrmachts-Wachleuten leben nur noch einige Dutzend. Doch diese müssen nun mit einer Anklage wegen Beihilfe zum Mord rechnen.
Anlass für die späte juristische Offensive war der Fall des Ukrainers John Demjanjuk, der 2009 bis 2011 in München vor Gericht stand. Ursprünglich hielt man ihn für einen besonders grausamen KZ-Schergen, nachweisen konnte man ihm dann aber nur ganz allgemein seine Tätigkeit im Vernichtungslager Sobibor. Das Landgericht verurteilte ihn trotzdem zu einer fünfjährigen Haftstrafe wegen Beihilfe zum Mord. Es genüge, dass er „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ war.
Beihilfe zum Mord?
Doch hätte der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil akzeptiert? Trotz eingelegter Revision konnte der BGH das Münchner Urteil nicht mehr prüfen. Demjanjuk starb im April 2012.
Es gibt mehrere Gründe, warum der BGH einen Mordvorwurf gegen KZ-Wachleute akzeptieren dürfte. So genügt es etwa, bei einem Mord Schmiere zu stehen, um wegen Beihilfe verurteilt zu werden. Ein unmittelbarer Beitrag zur Tötung ist nicht erforderlich.
Auch in den 60er Jahren hatte es schon vereinzelte Urteile gegen Wachleute von Vernichtungslagern gegeben, die auch der BGH anerkannte. Ein Mann, der lediglich Buchhalter im Vernichtungslager Sobibor war, wurde 1966 wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 68.000 Fällen verurteilt.
Eine Wende kam 1969, als der BGH den Lagerzahnarzt von Auschwitz-Birkenau, Willi Schatz, freisprach. Mordgehilfe sei nur, wer den Mord „konkret fördert“. In der Folge wurden KZ-Wachleute, denen keine konkrete Mitwirkung an Tötungshandlungen bewiesen werden konnte, jahrzehntelang nicht mehr wegen Beihilfe zum Mord angeklagt und verurteilt.
Frage der Nachweisbarkeit der Schuld
Thilo Kurz, Mitarbeiter der Ludwigsburger Zentralstelle, glaubt, dass das Lagerzahnarzt-Urteil falsch verstanden wurde. Nach seiner Lesart habe der BGH 1969 nur für das „gemischte“ Lager Auschwitz-Birkenau, das auch Arbeitslager war, eine konkrete Tatförderung verlangt. Die Rechtsprechung zur Beihilfe von Wachleuten in reinen Vernichtungslagern habe der BGH gar nicht aufgeben wollen – und Demjanjuk habe ja in einem solchen gearbeitet.
Allerdings geht die Zentralstelle jetzt über das Demjanjuk-Urteil hinaus und verfolgt auch Wachleute, die in Auschwitz-Birkenau, also einem gemischten Lager, arbeiteten. Doch Kurt Schrimm, Leiter der Zentralstelle, sieht darin kein neues juristisches Problem. „Der Vernichtungszweck von Auschwitz-Birkenau war so dominant, dass jeder Wachmann nach ein paar Tagen wusste, dass er Teil einer Tötungsmaschinerie war.“
Ob nun in 30 Fällen Anklage wegen Beihilfe zum Mord erhoben wird, müssen die örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften entscheiden. Dies hängt auch vom Gesundheitszustand der bis zu 97 Jahre alten Männer ab.
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