Vorabdruck aus „1956“: Welt aus den Angeln
Tunesien, Ungarn, Kuba: 1956 war das Jahr, in dem Menschen ihr Recht auf ein anderes Leben forderten. Ein Vorabdruck aus „1956. Welt im Aufstand“.
Das Jahr begann unheilvoll – ein Jahr, dem viele prognostizierten, es brächte besondere Herausforderungen mit sich. So warnte beispielsweise General Francisco Franco, der nun schon seit fast 18 Jahren als Diktator Spanien regierte, in seiner Neujahrsbotschaft, dass „die Gefahren, die die Welt bedrohen, größer sind als je zuvor“.
Die Londoner Times forderte in ihrer ersten Ausgabe des neuen Jahres zu „Mut“ im Angesicht der „Krisen“ auf, die „uns zweifellos bevorstehen“. Gleichzeitig versicherte Premierminister Anthony Eden: „Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um jederzeit und bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Spannungen zwischen den Nationen abzubauen.“ Und er äußerte seine „große Vorfreude“ auf das bevorstehende Gipfeltreffen mit Präsident Eisenhower, ein Treffen, das, so seine Überzeugung, „zum Frieden auf der Welt beitragen“ werde.
Das neue Jahr gab durchaus auch Anlass zu Optimismus. Am 1. Januar versicherte Rev. Martin Luther King Jr. von der Kanzel der Baptistenkirche in der Dexter Avenue in Montgomery, Alabama, seiner Gemeinde, es gebe „keine bessere Art und Weise“, das neue Jahr zu beginnen, als mit dem festen Glauben an einen mächtigen Gott – einen Gott, der „es vermochte, die gigantischen Berge des Widerstands zu überwinden und die ungeheuerlichen Gipfel des Bösen einzuebnen“.
King, der junge aufsteigende Stern in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, gab zu, dass das Ausmaß an Unmenschlichkeit unter den Menschen sowie die grauenhaften Realitäten des modernen Krieges „jeden von uns die Macht unseres Gottes in Frage stellen lassen“. Aber, so King weiter, die Überzeugung, dass das Gute letztlich im Kampf gegen das Böse siegreich sein werde, bilde die Wurzel des christlichen Glaubens.
Martin Luther King
Der Boykott der nach Rassen getrennten Stadtbusse ging in seinen zweiten Monat: King forderte seine Gemeinde dringend dazu auf, in ihrem gegenwärtigen Kampf gegen das Böse nicht nachzulassen, und er fügte hinzu, es gebe keinen Grund, sich Sorgen zu machen, denn „Gott vermag alles. Sorgt euch nicht wegen der Rassentrennung. Sie wird verschwinden, weil sie Gott gegen sich hat.“
Sabotage- und Terrorakte in Algerien
Am 1. Januar erlebte die Welt außerdem, wie eine neue unabhängige Nation geboren wurde: Im Sudan endete nach über einem halben Jahrhundert die anglo-ägyptische Herrschaft. Während einer Zeremonie auf dem Rasen des Palasts in Khartoum mit zweitausend geladenen Gästen erklärte der neue Premierminister Ismail el-Azhari: „Es gibt in der Geschichte des Landes Sudan und seines Volkes kein größeres Ereignis als das heutige … Wenn dieser Tag das Ende unseres Kampfes um Unabhängigkeit markiert, so markiert er zugleich den Beginn unserer Aufgabe, unseren zukünftigen Fortschritt zu gestalten.“
Simon Hall: „1956. Welt im Aufstand“. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016, 512 Seiten, zahlreiche Abb., 24,95 Euro
Und während die Kapelle die sudanesische Nationalhymne anstimmte und Kanonen Salut schossen, stellte sich el-Azhari neben den Anführer der offiziellen Opposition, um die blau-gelb-grüne Trikolore des neuen Staates zu hissen, während gleichzeitig von Offizieren der sudanesischen Streitkräfte die britische und die ägyptische Flagge eingeholt wurden.
Im französischen Teil Nordafrikas war die Situation sehr viel weniger verheißungsvoll. Ende Dezember hatten französische Streitkräfte nach einer Angriffswelle von marokkanischen Kämpfern eine größere Militäroperation in der Nähe des Rif-Gebirges gestartet und über 50 Rebellen getötet; außerdem reagierten sie mit großer Härte auf Sabotage- und Terrorakte in Algerien, wo einem Zeitungsbericht zufolge am Freitag, dem 30. Dezember, in einer einzigen Provinz über 20 Rebellen getötet wurden (nur wenige Wochen später warnte Albert Camus, wenn die europäische und die muslimische Bevölkerung keinen Weg zu einem friedlichen Zusammenleben in gegenseitigem Respekt fänden, wären sie „verdammt, zusammen – mit Wut im Herzen – zu sterben“).
„Beendigung des Kalten Krieges“
Der jugoslawische Präsident Josip Tito erklärte in seiner Neujahrsbotschaft, die er während eines Besuchs bei Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser verfasste, dass das Volk Afrikas „nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung strebt“, und er verurteilte die „zivilisierende Mission“ europäischer Imperialisten als kaum mehr denn als einen Vorwand, um „schwache und unterentwickelte Länder zu dominieren“. Tito war jedoch optimistisch, dass „eine Zeit der friedlichen Beilegung internationaler Probleme angebrochen ist“ – dass „Krieg als Mittel zur Lösung von Streitigkeiten nicht mehr akzeptiert wird“.
Auch in Moskau war die Rede von Frieden. Am 31. Dezember erklärte der sowjetische Ministerpräsident Nikolai Bulganin, es sei – vorausgesetzt, man stieße auf hinreichend viel guten Willen und Verständigungsbereitschaft – möglich, dass im Jahr 1956 bedeutende Fortschritte in Richtung einer „Beendigung des Kalten Krieges“ erzielt werden könnten.
Im weiteren Verlauf des Abends hießen Bulganin und Nikita Chruschtschow, Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, gut 1200 Gäste zu einem üppigen Staatsbankett willkommen. Unter den Gästen, die sich im riesigen Georgssaal des Kreml einfanden, waren auch auswärtige Diplomaten, und die Feier dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Außer Essen, Champagner und Musik gehörten Ansprachen zum Abend, zahlreiche Toasts wurden ausgebracht, und man tanzte, wobei sich vor allem hohe sowjetische Regierungsbeamte hervortaten: Die New York Times berichtete, Bulganin „sei, umgeben von einer Schar Mädchen, umherstolziert“.
In Key West war die Szenerie eine ganz andere: Hier erholte sich Präsident Eisenhower von einem Herzinfarkt im September, er brachte seine Zeit mit Malen, Golfspielen und gelegentlichen Spaziergängen zu. Man hatte zwar ein „festliches Abendessen im Familienkreis“ geplant, doch war es „unsicher, ob der Präsident bis Mitternacht aufbleiben würde, um das neue Jahr zu begrüßen“.
Die führenden Politiker der Welt sprachen in ihren Reden die Schwierigkeiten an, die vor ihnen und der Welt lagen, sie brachten ihren Wunsch nach „Frieden“ zum Ausdruck oder versprachen eine bessere Zukunft. Aber sie sollten sich schon bald mitgerissen – manche sogar hinweggefegt – sehen von einer außerordentlichen Reihe abwechselnd dramatischer, schockierender und weltverändernder Ereignisse, die nicht einmal die scharfsinnigsten Beobachter hätten voraussehen können.
Auszugsweiser Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Klett-Cotta Verlags. Das Buch erscheint am 20. Februar.
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