: Vor allem einsam werden wir sein
Was erwartet den Marathonläufer am Ende des digitalen Superhighways? ■ Von Tilmann P. Gangloff
Das geschriebene Wort, das schon immer Macht bedeutete, droht in einer technisierten Welt auszusterben. Schon jetzt ist die Anzahl der sekundären Analphabeten, der Menschen also, die kraft ihres schulischen Werdegangs eigentlich lesen können müßten, beträchtlich. Die Wissenskluft, der Unterschied zwischen den aktiven Mediennutzern, die sich informieren und weiterbilden wollen, und den passiven Mediengebrauchern, die in erster Linie auf Zerstreuung aus sind, droht angesichts der Elektronisierung des Alltags noch größer zu werden.
Erfahrungsgemäß sind erstere Medien-Innovationen gegenüber ungleich aufgeschlossener; sie werden viel eher bereit sein, die Maut für den elektronischen Superhighway zu entrichten und sich auf den Weg in eine schöne neue Medienwelt zu machen. Was sie dort erwartet, wird jene Fernseherfahrungen, die Kulturkritiker wie Neil Postman zu ihren Plädoyers gegen das Fernsehen animierten, wie die ersten Gehversuche eines späteren Marathonläufers erscheinen lassen.
In der restlos vernetzten Zukunft wird das Leben der Menschen ungleich stärker als heute von Bildschirmen bestimmt sein; die Arbeit, die Freizeit, die Dienstleistungen: alles wird per Bildschirm stattfinden. Blickt man in eine noch etwas fernere Zukunft, werden Fernsehbilder mittels Lasertechnologien ohne Umweg direkt auf die Netzhaut projiziert, finden Sitcoms per Holographie im eigenen Wohnzimmer statt, erlebt man im Cyberspace die Abenteuer der heutigen Kinohelden gleich selbst oder läßt sich, falls weniger gut betucht, immerhin die Erinnerungen an intergalaktische Weltreisen implantieren. Der Mensch der Zukunft wird demnach sehr, sehr einsam sein; was immer er erlebt, er ist dabei allein, umgeben allenfalls von virtuellen Wesen. Der Mensch der Zukunft wird die Krönung einer evolutionären Entwicklung darstellen, die unsere Kinder bereits jetzt vorleben: den elektronischen Eremiten. Natürlich hat das virtuelle Dasein seine Vorteile: Die Kreaturen, mit denen man sich umgibt, hat man selbst geschaffen, und die Katze pinkelt nicht mehr aufs Sofa. Den Schlußpunkt dieser Entwicklung bildet die Digitalisierung des Mediennutzers; als pure Energie wäre ihm, fernab von Umweltverschmutzung und Kindergeschrei, die Unsterblichkeit gewiß – vorausgesetzt, die Autonomen der Zukunft haben nicht nach wie vor ihren Spaß am Basteln von Killerviren. Die ständige Gefährdung der Spezies Mensch wird sich bloß in eine andere Dimension verlagern; von virtuell zu virulent ist es nur ein kleiner Schritt.
Kehren wir zurück in die Wirklichkeit. Der Mensch, wie elektronisch sein Dasein auch immer werden mag, wird sich auch in absehbarer Zukunft seinen Basisinstinkten unterwerfen müssen, und zu denen zählt neben dem Überlebenswillen auch der Trieb zur Fortpflanzung. Selbst im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit wird der Mensch also eine Form von Wärme suchen, die nur im Bild der überspringenden Funken mit elektrischer Energie zu tun hat. Auch deutet vieles darauf hin, daß es allenfalls dem gestreßten New Yorker erstrebenswert erscheinen mag, keinen Fuß mehr vor die bereits von Straßenräubern umlagerte Haustür zu setzen.
Die Gesellschaft der Neunziger erscheint mehr und mehr von der Sehnsucht nach Normalität bestimmt. Angesichts der Rezession entwickeln die Menschen ein starkes Bedürfnis nach Solidarität, nach Wir-Erlebnissen. Nicht mehr die Außenseiter, sondern vielmehr die Durchschnittsmenschen bestimmen den Trend; der Massengeschmack, als ritualisiertes Korrektiv („TED“) heimlicher Programmdirektor aller TV-Kanäle, feiert seine Wiederauferstehung.
Hinzu kommt, daß der Trend zur Entindividualisierung vor dem Hintergrund der Auswirkungen einer weltweiten Rezession verständlich und soziologisch vermutlich auch begrüßenswert ist; und den politisch Feinfühligen sei gesagt: Nicht jede Zusammenrottung trägt schon den Kern des Faschismus in sich. Gleichzeitig birgt der elektronische Superhighway, betrachtet man ihn optimistisch (ohne dabei gleich in positivistischen Jubel zu verfallen), eine Menge Chancen. Denn all jene Hoffnungen, die die Weltverbesserer einst mit dem Buchdruck verknüpft haben, lassen sich nun natürlich auch auf die Elektronik projizieren. Bereits das Fernsehen wurde ja als Möglichkeit für sozial Benachteiligte begrüßt, sich die Welt zu erschließen.
Zwar mag man dem entgegenhalten, daß sich weder die pädagogischen Erwartungen an das edukative Potential der „Sesamstraße“ (die ja in den USA explizit für Kinder aus niedrigeren Bildungsschichten so etwas wie Chancengleichheit etablieren sollte) bis dato erfüllt hätten noch die Vorfreude auf die vielfältige Fernsehlandschaft des dualen Rundfunksystems. Außerdem werde eine sprunghafte Vergrößerung des Angebots zwangsläufig zunächst einmal eine Verschlechterung der Qualität nach sich ziehen. Andererseits: Am audiovisuellen Kiosk wird sich nicht das Produkt hervortun, das sich am meisten anbiedert, sondern jenes, das die Bedürfnisse der Kunden am originellsten zu befriedigen versteht und gleichzeitig ihre Intelligenz nicht beleidigt.
Gemeinsam mit der Möglichkeit, Daten zu komprimieren und wiederaufzublasen, wird die Digitalisierung des Fernsehbildes eine Revolution darstellen, die alle anderen sogenannten Revolutionen der Fernsehgeschichte in den Schatten stellt. Der Fernseher der Zukunft wird mehr Ähnlichkeiten mit einem Computer als mit dem uns bekannten Gerät haben. Es wird 500 und mehr Kanäle geben, nahezu grenzenlose Interaktivität wird möglich sein. Was fehlen wird, ist die hemmungslose Begeisterung der Konsumenten. Die Phase der Individuation, des schrankenlosen Bedürfnisses nach „anything goes“, ist vorbei – der elektronische Eremit wäre ein Anachronismus. Und so kann unvermittelt Realität werden, was Neil Postman kaum zu hoffen gewagt hatte: Die Menschen werden zu „liebevollen Widerstandskämpfern“ gegen eine „Kultur ohne moralische Grundlage“, gegen ein Technopol, dessen Strukturiertheit all jene Antworten ausschließt, nach denen die Menschen immer lauter fragen werden.
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