Cristiano Ronaldo vor EM-Auftakt: Der Gesetzte
In Portugal schauen alle auf einen älteren Kicker aus der saudischen Profiliga: Das Team gruppiert sich um Cristiano Ronaldo.
Die Heldenverehrung in Harsewinkel begann schon am Freitag. Rund 6.000 Fans hießen das portugiesische Team und allen voran Ronaldo frenetisch bei der Ankunft willkommen. Und der 39-jährige Weltstar erklärte gerührt, es fühle sich an, als sei er in Portugal angekommen. Das hat vermutlich im westfälischen Harsewinkel zuvor auch noch niemand behauptet. Die Welle der südeuropäischen Begeisterung schwappte dann nach Gütersloh über, wo vor dem Heidewaldstadion die Schwarzmarktpreise in die Höhe schnellten. Die begehrten eigentlich kostenlosen Tickets für das erste EM-Training von Ronaldo & Co wurden zu Geld gemacht. Das größte Spektakel dabei dürfte der Wettstreit zwischen den Ordnern und diversen Flitzern gewesen sein, die versuchten, mit ihrem heiligen Idol in Berührung zu kommen.
In all dem Trubel um den einen Einzigartigen hat Mitspieler Vitinha zwei schöne vielsagende Sätze gesagt: „Wir hoffen, dass er eine große Hilfe für unser Team sein wird. Wir sind aber auch hier, um ihm zu helfen, damit wir gemeinsam so weit wie möglich kommen.“ Wir und Ronaldo – das ist erst einmal der portugiesische Arbeitstitel dieser EM.
Kurios daran ist, dass diese Unterscheidung eigentlich durch nichts zu rechtfertigen ist. Der portugiesische Kader zählt zu den besten dieser EM. Ruben Dias und Bernardo Silva (Manchester City) oder Bruno Fernandes (Manchester United) gehören beispielsweise in der Premier League zu den Topstars, während niemand genau weiß, wie viel eigentlich genau die 44 Tore Ronaldos in 45 Spielen der saudischen Liga für al-Nassr FC wert sind.
Die Diskussionen darum, ob Ronaldo mehr Hypothek als Hilfe für das Team ist, dauern nun schon einige Jahre an. Bereits bei der WM in Katar fiel dessen mangelnde Laufbereitschaft auf. Der ausrechenbare Ansatz, Team für Ronaldo, erschien dem damaligen Trainer Fernando Santos zudem für die K.-o.-Phase ungeeignet, weshalb er Ronaldo auf die Bank versetzte. Beim besten WM-Spiel der Portugiesen, beim 6:1 gegen die Schweiz, war Ronaldo die wenigsten Minuten auf dem Rasen. Gut bekommen ist diese Idee Santos dennoch nicht. Das Scheitern im Viertelfinale war dann der Anlass, sich von ihm zu trennen. Nachfolger Roberto Martínez machte schnell klar, dass Ronaldo bei ihm wieder gesetzt ist. Nach der ersten Begegnung der beiden erzählte Martinez, er sei von seiner Bescheidenheit überrascht gewesen.
Vitinha, Teamkollege
Ronaldo kann Lothar Matthäus überholen
Befürworter von Ronaldo fühlen sich durch dessen Verlässlichkeit in der EM-Qualifikation (10 Tore) und die zwei Treffer im jüngsten Testspiel beim 3:0-Erfolg gegen Irland bestätigt. Kritiker verweisen darauf, wie befreit das portugiesische Team aufspielt, wenn Ronaldo mal passen muss. Sollte Portugal bei seinem Auftaktspiel gegen Tschechien am Dienstag in Leipzig nicht überzeugen können, dürfte die Debatte in die nächste Runde gehen.
Es wird Ronaldos sechste Europameisterschaft sein. So viele hat keiner bislang bestritten. Auf der Jagd nach Altersrekorden gibt es aber sogar einen im portugiesischen Team, der Ronaldo ausstechen kann. Verteidiger Pepe wäre bei einem Einsatz mit 41 Jahren der älteste Spieler, der jemals bei einer EM den Rasen betreten hat. Sollte er draußen bleiben, könnte Ronaldo zumindest Lothar Matthäus überholen, der bislang die Rangliste der ältesten Feldspieler bei einer EM mit 39 Jahren anführt. Sein letztes Turnierspiel verlor er im Jahr 2000 gegen Portugal (0:3). Das Vorrunden-Aus der Deutschen wurde damals auch auf den fehlenden Mut zurückgeführt, sich von Spielern zu lösen, die ihren Zenit weit überschritten hatten.
Im Zweifelsfall dürften Ronaldo die Altersrekorde aber sowieso egal sein. Der Europameistertitel sei für ihn das Ziel, erklärte stellvertretend für Ronaldo der Abwehrspieler Diogo Dalot vor der Partie gegen Tschechien. „Er denkt immer in großen Dimensionen, und wir wollen ihn unterstützen, denn er ist unser Kapitän.“ Da kam es wieder zum Vorschein, das portugiesische Prinzip: das Team für Ronaldo.
Heldenverehrung im Fußball ist eben nicht nur etwas für Groupies und Flitzer. Im Fall von Ronaldo fühlen sich offenbar sogar die Mitspieler verpflichtet, unentwegt dessen Ausnahmestatus hervorzukehren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei