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Vor Kommunalwahlen in RusslandIm Geist von Nawalny

Swetlana Kawersina will in den Stadtrat der russischen Metropole Nowosibirsk. Sie kandidiert für die Freunde des Anschlagsopfers Alexei Nawalny.

Der Fluss Ob in Nowosibirsk. Im Hintergrund wächst die Stadt Foto: imago

Novosibirsk taz | Das Meer. Swetlana Kawersina schaut aufs Wasser, der Wind peitscht ihr ins Gesicht. Unten am Ufer geht ein Vater mit seinem Sohn spazieren, das Kind klettert auf die Steinbrocken, in der Ferne angeln zwei Männer. Kawersina ist oft hier, wie so viele der Ein­woh­ner*innen des Nowosibirsker Stadtteils Rechte Tschomy, den hier alle nur Schleuse nennen, wegen der Schleuse gleich um die Ecke. Kawersina läuft den kleinen Trampelpfad entlang, vorbei an ihrer geliebten Kirche mit dem blauen Zwiebelturm zu den neunstöckigen Plattenbauten rundherum. Im Hof steht ein klappriges Tischchen, das den Windstößen kaum standhält. „Unser Meer soll eingezäunt werden. Wir sind dagegen. Wollen Sie unterschreiben?“, fragt Kawersina die Passanten. Eine Frau winkt ab, ein Mann bleibt stehen. Eine andere Frau sagt fordernd: „Geben Sie mal her, meine Unterschrift ist Ihnen sicher.“

Die Wahl am 13. September

Die Wahl Am 13. September werden in 20 russischen Regionen Gouverneure gewählt. Elf Regionen bestimmen die Zusammensetzung der Regionalparlamente, in 22 Regionalhauptstädten wählen die Menschen ihre Stadtparlamente. Zudem wird auch über die Zusammensetzung von Stadtparlamenten in Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern abgestimmt.

Die Strategie Die Nawalny-Methode „Kluges Wählen“ ist eine Strategie, die zur Wahl eines Kandidaten oder einer Kandidatin, durchaus auch aus der system­treuen Opposition, rät. Die Hauptsache dabei ist, dass keine Stimme an Wladimir Putins Partei Einiges Russland geht, in Nowosibirsk sollen auch keine Kommunisten gewählt werden. Damit wollen die Freunde Nawalnys das Machtmonopol der Regierungspartei brechen.

Die Koalition In Nowosibirsk stehen 50 Plätze im Stadtrat zur Wahl. 32 davon will die Koalition Nowosibirsk 2020 um den Nawalny-Mann Boiko erobern. (taz)

Nowosibirsk hat kein Meer. Nowosibirsk hat den Fluss Ob – und ein Wasserkraftwerk aus den 1950er Jahren, das den „Schleusianern“ ihr Naturparadies beschert. Einen kleinen Flecken nur, mit sandigem Boden, den Bäumen, die sie selbst gesetzt haben. Es gibt sonst nicht viel für die 16.000 Bewohner des Viertels. Die Wege sind oft aus bröckelndem Beton gebaut, die Busse ins Zentrum fahren nur unregelmäßig und mit dem Auto dauert es schon einmal mehr als eine Stunde in die Stadt. Swetlana Kawersina ist vor sieben Jahren hierhergezogen, seit 30 Jahren aber lebt die 50-Jährige in Nowosibirsk, der drittgrößten Metropole Russlands. Sie kennt jede Ecke in ihrem Viertel, sie hat Subbotniks organisiert, damit der Müll am „Meer“ verschwindet, hat den Fühlgarten an der Kirche mitgestaltet, damit die Kinder Beeren sammeln können. Sie hat ihre Welt – mitsamt Bekannten und Kolleg*innen ihrer Organisation „An der Schleuse“ – ein wenig verändert. „Wir wollen in einer lebenswerten Stadt leben“, sagt sie.

Nowosibirsk verdankt seine Existenz einer Eisenbahnbrücke über den Ob, die die Stadt zu einem Knotenpunkt der Transsibirischen Eisenbahn machte. Im Gegensatz zu anderen sibirischen Städten lebt die Metropole nicht von Öl und Gas. Sie lebt vom Handel – und vom Baugrund. Dutzende Baulöwen haben die Stadt untereinander aufgeteilt, die meisten von ihnen sitzen im Stadtrat. „Die Baumonopolisten steuern die Stadt“, heißt es in einem Film, den Alexei Nawalny kurz vor seiner Vergiftung in Nowosibirsk gedreht hat. Die Stadt ist eine Baustelle. Es fehlten die Grünflächen, Erholungsecken, Parks, sagen viele Menschen.

Swetlana Kawersina will etwas ändern

Swetlana Kawersina, die Aktivistin von der Schleuse, ist tief gläubig, radikaler Konservatismus ist ihr aber höchst suspekt. Als Kirchenvertreter vor sechs Jahren damit begannen, Rockkonzerte zu verbieten, und Schlägertypen schickte, um die „Ungläubigen zur Vernunft“ zu bringen, reichte es der Sozialarbeiterin. Sie ging auf die Straße, fand sich inmitten schwarz gekleideter, durchtrainierter Männer, die sie und ein Dutzend weiterer Frauen umstellten. „Da verlor ich meine Angst“, sagt sie.

Swetlana Kawersina kämpf gegen die Baumafia und für eine lebenswerte Stadt Novisibrisk Foto: Inna Hartwich

Kawersina will mitreden, will mitgestalten. „Im Stadtrat gibt es keinen Dialog. Im Stadtrat wird aufs Knöpfchen gedrückt und alles einfach abgenickt. Was die Leute tatsächlich schmerzt, das wollen die Abgeordneten nicht hören“, sagt sie – und will genau dorthin: in die Volksvertretung, als Abgeordnete für ihren Bezirk, für die Schleuse.

Am kommenden Sonntag wählen die Nowosibirsker wie so viele andere im Land ihr Lokalparlament. Ein Gremium, das auch imstande wäre, den Bürgermeister von seinem Posten zu verjagen. Schon 2014 hatten die Nowosibirsker den Aufstand geprobt, hatten einen Kommunisten zum Bürgermeister gemacht. Egal wer, Hauptsache, niemand von Einiges Russland, hatte es geheißen. Doch Anatoli Lokot, die Alternative von damals, arrangierte sich schnell mit den unbeliebten Vertretern von Staatspräsident Wladimir Putins Regierungspartei. Er ist bis heute im Amt, quasi ein Schaf im Wolfspelz.

Sergei Boiko nimmt es mit den Mächtigen auf

Diese Enttäuschung will die Koalition Nowosibirsk 2020 um den IT-Spezialisten Sergei Boiko nun überwinden. Der knapp 40-Jährige hat Menschen wie Swetlana Kawersina um sich geschart, mehr als 30 Männer und Frauen, Ökoaktivist*innen, Tier­schüt­zer*innen, Journalisten, mit denen er das Machtmonopol im Stadtrat brechen will. Alle von ihnen sind in Konflikten mit den Mächtigen erprobt, nun sollen aus den Aktivist*innen Po­li­ti­ker*innen werden. Die Koalition als Plattform von Gleichgesinnten, der Jüngste ist gerade einmal 19 Jahre alt.

„In Russland steht man irgendwann immer vor der Frage: Abhauen oder in die Politik gehen, um etwas zu ändern? Ich bin geblieben“, sagt Boiko im Hauptsitz der Koalition. Hier stapeln sich Infobroschüren, Sticker mit der Aufschrift „Es ist Zeit, die Machtverhältnisse zu verändern“, die freiwilligen Helfer*innen trudeln ein, die Telefone klingeln. Ein Jugendlicher will die Fahne der Koalition abholen, um mit ihr auf seinem Rad durch die Stadt zu fahren. Ein mittelalter Mann möchte wissen, für wen er in seinem Bezirk stimmen soll. Helferin Antonina gibt seine Adresse in den Rechner, schon spuckt das Programm den Namen des Kandidaten aus. „Kluges Wählen“ nennt sich die Methode. Alexei Nawalny hatte sie erfunden und in Moskau erprobt, mit Erfolg. Auch bei den Regionalwahlen soll sie greifen und Einiges Russland die Stimmen nehmen.

Noch vor ein paar Wochen im August hatte der 44-Jährige auf seiner Sibirien-Reise einen Stopp in Nowosibirsk eingelegt. „Er hat hier mit uns zusammengesessen, war so höflich. Es war angenehm zu spüren, dass auch wir ein Teil seiner Bewegung sind, ein Teil von ihm“, sagt die 21-jährige Wirtschaftsstudentin Kristina. Sie strahlt. Das Entsetzen über den Giftanschlag auf ihr Idol folgte nur einige Tage später. „Es passiert so nah“, sagt Kristina. Dann packt sie mit zwei weiteren Freiwilligen Plastiktaschen zusammen und macht sich auf zum Infostand irgendwo in der Stadt. Menschen aufklären, ihnen immer wieder sagen: „Doch, wir können etwas ändern. In dieser großen Stadt, mit unseren kleinen Schritten.“

Irina Skalaban: Sie sprechen die Sprache der Jugend

Die Koalition um Boiko sei „das andere“, eine Alternative, die eine verständliche Sprache spreche, sagt die Nowosibirsker Soziologieprofessorin Irina Skalaban. „Nawalny hat es geschafft, die Sprache der Jugend zu sprechen, konkret zu sein. Einem gewöhnlichen russischen Beamten sind die wahren Wünsche der Menschen fremd, er hat gar nicht gelernt, auf sie zu hören, auf sie einzugehen, er manipuliert vielmehr mit den Ängsten der Bürger*innen vor einer ungewissen Zukunft.“ Den Russ*innen, die No­wo­si­birsker*innen seien da nicht ausgenommen, fehlten die Ventile, sie sähen keine Entwicklung und gäben auf. „Die Machtstrukturen sind antiquiert. Und irgendwann wird es den Menschen zu viel“, sagt Skalaban und verweist auf Chabarowsk, auch in Sibirien gelegen, wo seit Wochen gegen die Absetzung des Gouverneurs protestiert wird, auch auf Belarus, wo sich Dauerherrscher Lukaschenko mit aller Macht an seinen Posten krallt.

In Nowosibirsk sind es die Baulöwen, die den meist jungen Veränderungsbereiten der Koalition Steine in den Weg legen. Sie lassen Infostände demolieren oder verbieten die Wahlwerbung. Für Sergei Boiko sind das Kleinigkeiten. Die Mission des Nawalny-Getreuen von Nowosibirsk, sie führt weiter: Er will mit seinem Team ein Modell für das ganze Land sein, auch im Hinblick auf die Dumawahl im kommenden Jahr. „Wir zeigen hier, dass wir uns zusammentun können, auch wenn wir hie wie da anderer Meinung sind. Und dass wir als solcher Zusammenschluss etwas erreichen können, um festgefahrene Strukturen aufzubrechen“, sagt der eloquente Lokalpolitiker und weiß, dass auch die Stadtratswahl keine einfache sein wird. Vor allem, weil Nawalnys Stimme fehlt. „Ohne Alexei und seine Unterstützung wird es schwieriger für uns, die Wahlen zu stören. Seine Filme, die Auftritte in seiner Youtube-Sendung zogen immer.“

Navalnys Mann in Novosibirsk: Sergei Boiko tritt mit einer oppositionellen Liste an Foto: Inna Hartwich

50 Sitze hat das Stadtparlament von Nowosibirsk, einer 1,6-Millionen-Einwohner-Stadt, die hier alle nur „Stadt des Transits“ nennen, einer Stadt, die im Werden ist und nicht recht weiß, was sie sein will. Es ist eine Siedlung der Zugezogenen und der Wegziehenden, eine Konglomerat, in der an jeder Ecke neue, oft qualitativ schlechte Hochhäuser entstehen. Eine Metropole wie eine riesige Baustelle, mit klapprigen, mehrfach überstrichenen Bussen, die sich durch die verstopften Straßen zwängen, mit zweifach angebrachten Zäunen zwischen Gehweg und Straße, mit viel Staub und dem Geruch der Schweinefabrik in der Luft.

Riesige Wahlplakate säumen die Wege. „Einiges Russland – die Partei der Fürsorge und des Respekts“, steht auf den meisten. Die Fürsorge und den Respekt aber nimmt der Partei kaum noch einer ab. „Die Arbeit von Einiges Russland haben viele Bewohner satt. Aber zur Wahl gehen? Man könne eh nichts ändern, das sagen viele Passanten den jungen Freiwilligen von der Koalition am Infostand an einer Shoppingmall im Zentrum von Nowosibirsk. „Eine solche Einstellung ist die politische Realität im Land, damit müssen wir umgehen lernen“, sagt Sergei Boiko. Er lebt damit. Wie auch Swetlana Kawersina damit lebt. Und sich doch fast jeden Tag in ihren Hof „an der Schleuse“ stellt und mit den Bewohner*innen das Gespräch sucht. Für ein schöneres Nowosibirsk. Ein politisch wacheres.

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