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Von der Schönheit der Pappe

Melanie Woste zeigt in ihrer ersten Einzelausstellung der Galerie Art Cru Gerätschaften aus Pappkarton

Von Brigitte Werneburg

Im Berliner Ausstellungsbetrieb scheinen zurzeit die 1970er Jahre zu dominieren. Zwar setzt der „Summer of Love“ im Palais Populaire schon etwas früher an, aber in den Kunst-Werken, wo man an der Westküste bleibt, nämlich in Vancouver, ist man mit der Ausstellung von „Image Bank“, einem alternativen Distributionssystem für Kunst außerhalb des Radars von Museum und Markt, dann schon voll in den 70er Jahren.

Der charmanteste und dabei überraschendste Beitrag freilich kommt von Melanie Woste, die ihre erste Einzelausstellung in der Galerie Art Cru hat, einer Einrichtung, die der institutionellen Wahrnehmung von Museum und Markt ebenfalls eher entrückt ist – wenn auch nicht freiwillig. Denn die „erste Berliner Galerie“, wie in ihrer Selbstdarstellung zu lesen ist, „die sich auf Kunst von Menschen mit Behinderungen konzentriert“, würde es sehr begrüßen, ihre Künstler im Museum und auf dem Kunstmarkt zu sehen.

Melanie Woste kann die 1970er Jahre aus eigener Erfahrung nicht kennen. Sie wurde 1983 in Münster geboren, wo sie auch ihren Hauptschulabschluss gemacht hat. Warum haben es ihr ausgerechnet die Einrichtungsgegenstände und technischen Gerätschaften jener Zeit angetan? Man weiß es nicht. Vielleicht hat aber gerade sie, die Künstlerin, deren Aktionsradius durch ihre Behinderung eingeschränkt ist und die daher den Dingen und Relikten der näheren Umgebung viel größere Aufmerksamkeit schenken kann als der gewöhnliche Alltagsmensch, vielleicht hat sie genau die richtigen Antennen, den besonderen Elan und die besondere Vitalität des Designs und der technischen Entwicklungen dieses Jahrzehnts zu begreifen?

Betritt man die Galerie, so trifft man auf minutiös aus Pappkarton nachgestaltete Objekte, die in den 70er Jahren ultramodern waren. Zum Beispiel der berühmte Kassettenrekorder von Grundig oder die T-8-Kaffeemaschine von Krups. Wunderschön sind auch die Kaugummi- beziehungsweise Überraschungskugelautomaten. Hier kommt tatsächlich einmal transparentes Plastik zur Verwendung. Sonst aber sind die Kunstwerke, wie die Aktion-Kunst-Preisträgerin sagt, vollständig kompostier- und abbaubar. Um diese Idee zu unterstützen, hat Alexandra von Gersdorff-Bultmann, die Leiterin der Galerie Art Cru, die Podeste, auf denen eine Armbanduhr mit Digitalanzeige, ein Schweizer Taschenmesser oder ein Schraubenzieher präsentiert werden, aus steifen Pappkartons für DIN-A4-Fotopapiere gebaut.

Die Präzision und der Einfallsreichtum, mit dem Woste die kleinsten Details ihrer Geräte aus Pappe konstruiert, sind berückend und staunenswert. Diese Kunstfertigkeit lässt denn auch die Geräte nachgerade funktionstüchtig erscheinen. Und weil die Monochromie dazu den taktilen Reiz der Objekte hervorhebt, würde man nur allzu gerne auf die Starttaste des Kassettenrekorders drücken oder auf den Auslöser der Kamera. Dass die Gerätschaften in stummer Funktionslosigkeit verharren, passt interessanterweise aber auch. Denn die helle papierbraune Monochromie verleiht ihnen eine Aura des Natürlichen und in all ihrer Fragilität ein paradoxes Moment des ewig Währenden.

Noch bis Ende der Woche, Galerie Art Cru, Oranienburgerstr. 27, Mi.–Sa. 12–18 Uhr

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