Von den Moral aufsaugenden Dingen: Der Gang der Sache

Mit einem Regal voller Bücher über die Dingwelt kommt man ins Nachdenken. Zum Beispiel über Imma Harms' „Reflexionen über das Mensch-Ding-Verhältnis“.

Hotelschlüssel mit Gewicht dran

Die Moral des Dings: ein gewichtiges Argument zum Abgeben Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild

Es begann mit Bruno Latour, dem französischen Soziologen und Philosophen, der die Dinge als handelnde Akteure begreift, inzwischen habe ich schon ein ganzes Regal voller Bücher über die Dingwelt.

Laut Latour wird die Moral mehr und mehr an Dinge delegiert – zum Beispiel an die Hotelschlüssel, die man nicht deswegen abgibt, weil der nächste Gast sie braucht, sondern weil sie mit so einem dicken Gewicht verbunden wurden, dass man sie schnell loswerden will. Man ahnt, dass es mit den an der Zahl zunehmenden, alle Moral aufsaugenden Dingen nicht gut ausgehen kann. Die vielen Dinge machen nicht nur arm, wie der Schriftsteller Peter Mosler meinte, sondern auch asozial!

Die Massai besitzen im Durchschnitt 30 Dinge, die Deutschen 10.000.

Der Bischof von Kamtschatka, Venjaminoff, lehnte es 1860 ab, die ding­armen Aleuten zu taufen, „da die Bekehrten dann mit ihrer eingeborenen Moral brechen, die unter ihnen sehr hoch entwickelt ist“ – höher als die der doch zivilisierten Christen. Und als mehr als ein Jahrhundert später die Yanomami-Frau Yarima den Ethnologen Kenneth Good heiratete, zog sie mit ihm nach New Jersey, wo sie als Hausfrau mit drei Kindern in einem Reihenhaus lebte. Durch die Heirat verschaffte sich ihr Mann einen einzigartigen Zugang zur Gesellschaft der Yanomami. Nach einigen Jahren jedoch verließ die Frau ihn und ihre Kinder – und ging zurück an den Orinoco. Sie hielt es in den USA nicht aus: „Das Einzige, was sie lieben, sind Fernsehen und Einkaufszentren. Das ist doch kein Leben“, erklärte sie dem Autor Patrick Tierney für dessen Buch „Verrat am Paradies. Journalisten und Wissenschaftler zerstören das Leben am Amazonas“.

Ein Ding weniger

Die taz-Mitgründerin Imma Harms nahm sich 2017 vor, „von jetzt an jeden Tag“ ein Ding weniger zu besitzen. Sie vertritt eine so hohe Moralpolitik, dass die taz der irgendwann nicht mehr entsprach und sie sich auf einen taz-Blog zurückzog. Sie trennt sich jedoch nicht von ihrem Besitz, um wieder mehr Moral zu gewinnen, sondern weil sie sich auf ihr „allmähliches Verschwinden vorbereiten muss und will“, wie sie schreibt.

Die 71-Jährige hat zwar nicht vor, demnächst zu sterben, aber sie lebt auf dem Land und ihre wesentliche Tätigkeit besteht im Basteln und Reparieren (auf ebenso hohem Niveau wie ihre Moralpolitik – vor ihrem taz-Engagement war die Informatikerin Mitgründerin der technikkritischen Zeitschrift Wechselwirkung). Nun geht sie vorsorglich davon aus, dass sie in zehn bis fünfzehn Jahren zu solchen Arbeiten nicht mehr in der Lage sein wird. Gerahmt wird diese Dingreduzierung bei ihr von einem allgemeinen Zug zur Bescheidenheit, das heißt von ihrem Anspruch, immer weniger zum Leben zu brauchen. Fast hört sich das an wie ein geplantes „Fading-away“, sodass am Ende vielleicht nur einige wenige Dinge (Filme und Bücher) von ihrer Anwesenheit hienieden zeugen – als eine Art Existenz-Essenz.

Ist das nicht geradezu eine Anti-Wirtschaftsweise? Wo doch die Lebensgeilheit vieler Wohlhabenden sich gerade darin zeigt, sich immer mehr Dinge anzuschaffen, bis hin zu Schlössern, Schiffen und ganzen Inseln – und ihnen zuletzt nichts anderes übrig bleibt, als um Unsterblichkeit zu „kämpfen“.

Über diese Anökonomie, die Imma allerdings nicht so nennt und schon gar nicht moralisiert, hat sie nun im Aufland-Verlag „Reflexionen über das Mensch-Ding-Verhältnis“ veröffentlicht, „Dichtung und Heimwerk“ betitelt. Man erinnert sich vielleicht noch an Arundhati Roys Buch „Der Gott der kleinen Dinge“. Es heißt, „er ist der Gott dessen, was verloren geht, der persönlichen und alltäglichen Dinge, nicht der Gott der Geschichte, die die ‚kleinen Dinge‘ grausam in ihren Lauf zwingt“.

Der hiesige Gott steckt dagegen bereits laut Spinoza in allen Dingen (Tiere und Pflanzen sind auch „Sachen“). Zudem stellen sie und andere Sachen als Ware die „gesellschaftlichen Verhältnisse“ her, wie Marx schrieb, während wir als Personen/Produzenten „sachliche Verhältnisse“ eingehen.

Imma Harms bezieht sich in ihren Reflexionen kaum auf solche und andere (Ding-)„Diskurse“, schreibt ihr Verleger Kenneth Anders im Vorwort. Ihre „beinahe pingeligen Analysen“ könnten entmutigen, es gibt darin „Trauer und Komik“, aber noch öfter ist da beim Basteln und Reparieren auch „das Gelingen“.

Letzteres könnte sich sogar zu einem „gelungenen Leben“ aufsummieren. Man wird sehen.

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geb. 1947, arbeitet für die taz seit 1980, Regionalrecherchen, ostdeutsche Wirtschaft, seit 1988 kulturkritischer Kolumnist auf den Berliner Lokalseiten, ab 2002 Naturkritik.

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