Von Kirgistan in den Dschihad: Anwerbung im Hinterzimmer
Es gibt viele Gründe, nach Syrien zu gehen: Glaube, Armut, Propaganda. Akbar Marsalow wurde vom eigenen Onkel angeworben.
KISIL KIJA/ OSCH/ BISCHKEK taz | Die Todesnachricht kam per SMS. „Dein Sohn hat einen Engel geheiratet, so hat es Allah im Koran geschrieben, und das ist, was wir glauben.“ Scharia Marsalowas Gefühle schwanken zwischen Trauer und Unverständnis, seit im April diese Nachricht auf ihrem Mobiltelefon eintraf. Ihr 19-jähriger Sohn soll tot sein, gestorben irgendwo im fernen Syrien. Immer wieder starrt Marsalowa auf die grob gepixelten Buchstaben im Display ihres altmodischen Funktelefons finnischer Bauart. Doch Zweifel sind nicht gestattet. „Wer dies nicht glaubt, ist ein Sünder“, endet die verhängnisvolle Kurznachricht.
Das Gesicht der 38-jährigen Usbekin unter dem Kopftuch ist weich, die Augen suchen hilflos durch eine etwas zu große Herrenbrille nach Antwort. Die Hände wühlen in den Taschen ihrer Filzweste. Marsalowa sitzt auf dem Tapschan, einem zentralasiatischen Hochbett, im Garten ihres Gehöfts in der südkirgisischen Stadt Kysyl-Kija. Ein Baldachin spendet Schatten. Die Aprikosenbäume blühen, eine Mauer umgibt das einstöckige Wohnhaus. Der Garten ist frisch gefurcht. Akbar, der älteste Sohn, wird nie hierher zurückkehren.
Im südkirgisischen Kysyl-Kija, unweit der usbekischen Grenze wohnen viele ethnische Usbeken. In der Sowjetzeit war die Stadt im Ferganatal berühmt für den Kohleabbau, heute gibt es bis auf einige Textilklitschen und eine Zementfabrik kaum Arbeit; die Menschen suchen daher ihr Auskommen vor allem auf Baustellen und Märkten im Ausland.
Nach Russland auf den Bau?
Knapp 700.000 Menschen aus Kirgistan, das überhaupt nur 5,5 Millionen Einwohner hat, verdingen sich als Gastarbeiter in Russland. Ihre monatlichen Überweisungen sind eine wichtige Stütze für den bitterarmen Gebirgsstaat unweit der chinesischen Grenze. Aber die Menschen verlassen Kirgistan nicht nur wegen Lohn und Brot, sondern auch um in den Dschihad zu ziehen. Seit in Syrien ein grausamer Bürgerkrieg stattfindet, zieht es viele Männer und Frauen in den angeblichen Heiligen Krieg. Auch aus anderen zentralasiatischen Staaten hält der Zustrom an.
Wie Akbar gingen mehr als ein Dutzend junger Männer allein aus Kysyl-Kija nach Syrien. Wenige Straßen von Marsalowas Gehöft entfernt macht sich ein Usbeke Sorgen um seinen 20-jährigen Sohn. Seinen Händen sieht man an, dass er von Frühjahr bis Herbst auf dem Bau in Russland schuftet. Zuerst dachte er, sein Sohn sei ebenfalls dort. Doch der rief an und behauptete, in der Türkei zu leben. Der Vater versuchte, den Aufenthaltsort herauszubekommen, aber der Sohn telefonierte nur via Skype. „Er ist an einem schlimmen Ort“, sagt der Usbeke leise.
Auch der Imam von Kysyl-Kija ist beunruhigt. Zum Freitagsgebet füllt sich die Moschee. Danach sitzt der bärtige Mann hinter einem Mekkaposter in seinem kleinen Büro. „Ich warne in jeder Predigt: Geht nicht nach Syrien!“, sagt der Geistliche, „dort töten Muslime Muslime, das ist kein Dschihad.“ Aber die Propaganda sei wirksam, gibt der Mullah zu. Über Handy gehen die Videos von Hand zu Hand, sie zeigen die Kämpfe der syrischen Armee gegen Muslime, die Gräueltaten. Nicht nur ethnische Usbeken, auch Kirgisen folgten dem Ruf, erklärt der Mullah.
Diktierte Antworten
Oft geschieht die Anwerbung über Gebetskreise im Hinterzimmer. So verschwand im März vor einem Jahr die 19-jährige Amina Mamadschanowa. Über das Schicksal der jungen Usbekin hat das kirgisische Fernsehen berichtet. Dort erzählten die Eltern die Geschichte. Amina besuchte anfangs eine religiöse Gruppe. Sie fing an, den Schleier zu tragen und wurde immer fanatischer. Dann war sie plötzlich weg. Wenige Woche später konnten die besorgten Eltern mit der Tochter über Skype reden. Sie sagte, sie würde jetzt dem Islam dienen. Während des Gesprächs drehte sich Amina immer um. „Die Antworten sind ihr zudiktiert worden“, erklärte der Vater im Fernsehen. Heute will niemand aus der Familie mit Journalisten reden. Eine junge Frau, die jüngere Schwester von Amina, öffnet erst nach langem Klopfen. Eine Kuh grast im Garten, Hühner flitzen über das Grün. „Wir geben keine Interviews“, sagt sie nur.
Die Journalistin, die den Fernsehbeitrag für den ersten Kanal des kirgisischen Fernsehens drehte, hat seither Probleme. „Anonyme Anrufer bedrohen mich, ich würde den Glauben verraten“, erklärt die Journalistin in Osch, der größten Stadt in Südkirgistan, eine Autostunde von Kysyl-Kija entfernt. „Ich werde nie wieder über religiöse Themen berichten.“
Das kirgisische Innenministerium geht davon aus, dass etwa 90 Männer und Frauen nach Syrien gereist sind. Die Dunkelziffer ist höher. Allein in der Türkei, die visumfrei zu bereisen ist, sollen einige Tausend Kirgisen leben, und an die 400 Menschen gelten als verschollen. „Die Menschen werden zuvor einer regelrechten Gehirnwäsche unterzogen und von Schlepperorganisationen mit falschen Versprechungen nach Syrien gelockt“, sagt ein Beamter der kirgisischen Staatssicherheit beim Anflug auf Osch. Der Beamte schaut aus dem Flugzeugfenster. „Alle Felder sind bestellt. Die Leute sollten hier arbeiten und nicht in die Fremde gehen“, erklärt er. Von Osch fliegt eine türkische Billig-Airline direkt nach Istanbul.
„Was sollte ich tun?“, fragt die Mutter
Schlepper, falsche Versprechungen, religiöse Überzeugung. Es gibt viele Gründe, in Syrien zu sterben. Der Sohn von Scharia Marsalowa wurde vom eigenen Onkel angeworben.
Da Akbars Vater früh gestorben war, zog der Bruder ins Haus und führte ein strenges Regiment. „Das hat mir nicht gefallen“, zischt die Mutter, „aber was sollte ich tun? Akbar hat in seinem Onkel einen Vaterersatz gefunden.“ Ihr frommer Schwager habe dem Sohn das Beten beigebracht. Als Akbar heranwuchs, schien dies vorteilhaft. Er ließ die Finger vom Alkohol. Dann zog im Frühjahr 2013 der Schwager mit seiner Familie in die Türkei. Später ging der Sohn nach Russland. Von Moskau aus habe er sich noch mehrmals gemeldet, auch mal etwas Geld geschickt, sagt die Mutter, 30 US-Dollar waren das. „Ich habe mir gedacht, guter Junge, er vergisst seine kranke Mutter nicht“, erinnert sie sich. Doch dann rief Akbar an, er wolle zu seinem Onkel in die Türkei. Danach blieb er verschollen bis zu dieser SMS des Onkels. Akbar hatte wie viele Usbeken nicht in der kirgisischen Armee gedient. „Aber er war ein guter Kampfsportler“, sagt die Mutter.
Einige sterben in Syrien und andere kommen zurück. Und die fürchtet der kirgisische Staatssicherheitsdienst am meisten.
Zerschlagenes Gesicht
So jemand ist Sergei L., ein ethnischer Russe. Der 26-jährige Mann steht in einem Käfig im Gericht von Osch und flüstert seinem Anwalt etwas zu. Durch das Gitter sieht man ein bleiches, müdes Gesicht. In der Aktentasche des Anwalts liegt ein Foto, das Sergei L. zeigt, wie er kurz nach der Verhaftung vor einem Jahr aussah. Ein zerschlagenes Gesicht mit geschwollenen Lippen und Augen – Folgen eines Verhörs. Der Käfig im Gericht ist das vorläufige Ende einer Odyssee, die in der Abschrift der Vernehmung beschrieben ist.
Sergei L. wurde in Nordkirgistan geboren, dann zog er mit der Familie nach Almaty, wo er als Programmierer arbeitete. Nach einer persönlichen Krise nahm er den islamischen Glauben an und ließ sich überreden, nach Syrien zu gehen. Geld dafür hatte er gespart. Sergei L. sagt aus, wie er von der Türkei ins syrische Trainingslager kam und zusammen mit Tschetschenen, Usbeken und Kämpfern anderer Nationalitäten ausgebildet wurde. Er versichert, nicht selbst an direkten Kampfhandlungen teilgenommen zu haben. Das wäre nach kirgisischem Recht strafbar. Als der Anführer bei einem Luftangriff ums Leben gekommen sei, habe er die Chance genutzt, abzuhauen. Er wollte über die Türkei, Russland und Osch zurück zur Familie nach Almaty. Die kirgisischen Behörden sehen das anders. Aus ihrer Sicht wurde er nach Kirgistan geschickt, um Terror zu säen.
Ethnischer Konflikt
Die Mehrzahl der Syrienkämpfer aus Kirgistan sind Usbeken. Das hat besondere Brisanz. In Osch entbrannte 2010 ein ethnischer Konflikt zwischen Usbeken und Kirgisen, der vor allem unter den Usbeken Opfer gefordert hat. Über 2.000 Häuser wurden in tagelangen Pogromen von einem kirgisischen Mob niedergebrannt. Und nun fürchten viele, die kampferprobten Rückkehrer aus Syrien könnten Rache nehmen.
Unweit des Gerichtssaals hat Schurat Rasulow* eine Schreinerei. Der 47-jährige Usbeke ist tiefgläubig und wohnt zurückgezogen in einer kleinen Kemenate hinter der Werkstatt. „Ich gehe kaum mehr auf die Straße“, sagt er. Wenn er Trost sucht, klappt er den in rosafarbenen Stoff eingeschlagenen Koran auf. „Mein Sohn ist nach Syrien gegangen“, gesteht er. Seit den ethnischen Unruhen 2010 habe ein usbekischer Jugendlicher kaum eine Chance im Land, er sei Freiwild für die kirgisische Polizei. Sein 20-jähriger Sohn sei daher erst nach Moskau gegangen, dann in die Türkei und von dort aus nach Syrien. „Am Telefon hat er mir erklärt, dass jeder Muslim hier kämpfen muss“, sagt der Schreiner. „Ich verurteile ihn nicht, aber ich folge ihm nicht.“
Die Usbekin Marsalowa in Kysyl-Kija würde viel darum geben, wenn sie ihren Sohn hätte umstimmen können.
Einige Tage nach dem Erhalt der SMS haben Verwandte und Nachbarn gemeinsam im Innenhof getrauert. So wie es in Zentralasien Brauch ist. Ein Mullah sprach ein Gebet. Den Hammel für das Trauermahl haben Verwandte gespendet. Eine Trauerfeier ohne Leichnam, ohne Grab, ohne Totenschein, nur mit einer SMS als Gewissheit.
* Name auf Wunsch geändert
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