: Von Atomkraftwerk bis Raketen-abwehrsystem
Seit mehr als einer Woche beschießen sich Israel und Iran gegenseitig. Gerade scheint Israel – nun auch mit Unterstützung der USA – die Oberhand zu haben. Doch auch das kleine Land kann empfindlich getroffen werden, etwa bei der Infrastruktur

Aus Jerusalem und Beer Scheva Serena Bilanceri
Ein scharfer Rauchgeruch hängt noch in den Fluren der sechsten Etage des Gebäudes für Chirurgie, Urologie und Augenkunde des Soroka-Krankenhauses im südisraelischen Beer Scheva. Das nach Blumen riechende Reinigungsmittel, mit dem Mitarbeiter*innen die unteren Etagen gerade sauber machen, kann ihn nicht gänzlich überdecken. Von der Decke tropft Wasser, Kabel und Metallteile hängen in der Luft. Der Boden ist voller Trümmer: Klötze und Zement der Außenwand, die beim Einschlag der Rakete in Hunderte Fragmente zersprang. In den Räumen nebenan stehen noch leere Patientenbetten mitten im Bauschutt.
Diese apokalyptische Kulisse ist die Folge eines iranischen Luftangriffs. Ein Marschflugkörper hat am frühen Donnerstagmorgen vergangener Woche ein Gebäude des Soroka-Spitals getroffen – eines der wichtigsten medizinischen Zentren im Süden Israels, das für die Versorgung einer Million Menschen zuständig ist.
Dass niemand bei dem Einschlag sein Leben verlor, gleicht einem Wunder. Und zeugt von etwas Glück. Lediglich 60 Menschen mussten die Rettungskräfte nach dem Angriff behandeln, einen Teil davon wegen Angstzuständen. Die Patient*innen in der getroffenen Abteilung waren mit vielen anderen am Tag zuvor evakuiert und in sichere, tiefere Etagen gebracht worden. Das hat System: Seit über einer Woche haben Kliniken in Israel ihre Sicherheitsvorschriften verschärft. Viele arbeiten derzeit im Untergrund, nicht lebensnotwendige Operation sind vielerorts verschoben, stabile Patient*innen nach Hause geschickt worden. Entbindende Mütter sollen so schnell wie möglich nach der Geburt wieder nach Hause entlassen werden.
Der stellvertretender Geschäftsführer des Spitals Roy Kessous steht mitten in der Empfangshalle, unter seinen Füßen Glassplitter und Wasserpfützen. Er verkündet, dass das Krankenhaus zwar auf Notbetrieb eingestellt sei, aber für Notfälle weiterhin funktioniere. „Die Zerstörung ist massiv. Aber wir betreiben immer noch Operationssäle für Notfälle und die Geburtshilfestation.“
Soroka hat 1.173 Betten, derzeit sind aber nur wenige hundert belegt. Patient*innen sind in andere Krankenhäuser verlegt worden. Kessous sagt, er hoffe, zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen treffen zu können. Er weiß, dass das Krankenhaus noch mehr sichere Räume braucht, um seine Funktionalität aufrechterhalten zu können. Doch bombensichere Zimmer zu bauen, braucht Zeit. Und Geld, viel Geld. Vermutlich in Millionenhöhe, so ein Krankenhaus-Angestellter.
Spitäler sind im Kriegsfall wesentliche Dienstleister für die Bevölkerung. Von ihnen hängt das Überleben von Kranken und Verletzten ab. Doch sie fallen in Israel nicht zwangsläufig unter die Definition von „kritischer Infrastruktur“. Und sind nicht die einzigen, die gerade in diesem Konflikt mit der Islamischen Republik Iran auf dem Spiel stehen. Die iranische Regierung sagte kurz nachdem das Krankenhaus getroffen wurde, sie habe eigentlich auf eine Militärbasis und ein Forschungszentrum in der Nähe gezielt. Ob das so ist, ist strittig. Nach Angaben des israelischen Militärs träfen die iranischen Raketen genau. Und zwar befindet sich etwa zwei Kilometer vom Krankenhaus entfernt eine Basis der israelischen Armee und etwa einen Kilometer entfernt ein technologischer Campus – doch die Rakete schlug eben direkt in das Krankenhaus ein.
Das zeigt, wie vulnerabel kritische Infrastruktur selbst unter dem Schutz eines Luftabwehrsystems sein kann. In Israel gibt es mehrere solche wichtigen Anlagen. Würden sie angegriffen, könnte das für das gesamte Land problematisch werden: Kraftwerke zur Stromerzeugung, etwa in den Städten Aschdod und Hadera, Gasfelder im Mittelmeer, die für die Stromerzeugung wichtig sind; Militärbasen, aus denen die Kampfjets abfliegen sowie die Abschussrampen des Schutzsystems, allgemein bekannt als Iron Dome – und Kirya, der Hauptsitz der Streitkräfte in Tel Aviv, wesentlich für die militärische Koordination und Planung.
Oder auch das Kernforschungszentrum Negev nahe Dimona, gelegen in der gleichnamigen Wüste im Süden Israels. Das Land hat zwar den Besitz einer Atombombe nie öffentlich bestätigt, doch das schwedische Friedensforschungsinstitut Sipri geht in seinem jährlichen Bericht davon aus, dass Israel 90 nukleare Sprengköpfe haben könnte. Und es gibt noch mehr neuralgische Punkte: Firmen, die etwa Drohnen entwickeln, wie die staatliche Israel Aerospace Industries; Häfen wie Eilat und Aschkelon, durch die Waren und Treibstoff fließen; der Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv sowie Banken und Telekommunikationsfirmen.
Eine Stromanlage in Haifa ist vor einer Woche laut Medienberichten von einer Hyperschallrakete getroffen worden. Die israelische Stromgesellschaft hat den Einschlag bestätigt. Und mitgeteilt, dass ihre Teams daran arbeiteten, Risiken wie einen Stromschlag durch abgetrennte Kabel zu minimieren und die Stromversorgung wieder herzustellen. Eine Ölraffinerie, Bazan in Haifa, wurde ebenfalls getroffen und löste eine Kontroverse aus: Die Anlage sollte eigentlich irgendwann geschlossen werden, Umweltschützer*innen warnten schon lange vor den Gefahren, die – sowohl gesundheitlich als auch kriegsbedingt – von einer Raffinerie an einem so dicht bewohnten Ort ausgehen. Drei Mitarbeiter*innen starben in den Flammen, die Anlage musste schließen.
Zwei der drei israelischen Gasplattformen, die für 70 Prozent der israelischen Stromproduktion verantwortlich sind, haben ebenfalls den Betrieb eingestellt. Energieminister Eli Cohen sagte jedoch am Dienstag, dass es keinen Treibstoffmangel geben sollte. Anders sieht es im palästinensischen Westjordanland aus: Ein Rückgang von Treibstofftankern aus israelischem Gebiet sorgt laut palästinensischen Behörden für geschlossene Tankstellen und lange Warteschlangen, besorgte Einwohner*innen machen Panikkäufe. Der Umweltschützer und Solarenergie-Entrepreneur Yosef Abramowitz warnt vor den Risiken einer Attacke auf die Gasplattformen. Ein Angriff könnte das Salzwasser kontaminieren, das in die Entsalzungsanlagen fließt und einen Großteil des israelischen Trinkwassers liefert, sowie die Stromproduktion kappen.
Doch Risiken bestehen nicht nur im Energiebereich. Vor einigen Tagen hat eine Rakete das berühmte Weizmann-Forschungsinstitut in Rehovot getroffen und einen Teil seiner Labore und Bestände vernichtet. Das Institut hat einige Verbindungen zum israelischen Verteidigungsapparat – beschädigt wurden jedoch Abteilungen für Krebsforschung, Biologie und Biochemie. Die Risiken von Cyberattacken, die kritische Infrastruktur lähmen könnten, sind ebenfalls nicht zu unterschätzen. Doch auf diesem Gebiet ist Israel durch den langen Schattenkrieg mit dem Iran in den vergangenen Jahrzehnten gut vorbereitet. „Cyber-Bedrohungen waren nie unter den höchsten Prioritäten Israels. Wieso? Einfach weil die anderen Bedrohungen schlimmer waren“, erklärt Cyberexperte Lior Tabansky.
Über militärische Kapazitäten und kritische Infrastruktur in Israel zu sprechen, ist schwierig. Die Militärzensur verbietet es in vielen Fällen Medien, Einschläge oder Schäden an Militärinfrastruktur zu filmen oder deren Adresse preiszugeben. Bilder von Abfanginfrastrukturen, Abschüssen und Einschlägen sind ebenfalls verboten. So soll „dem Feind“ nicht geholfen werden. Dadurch kann jedoch der Eindruck entstehen, dass lediglich zivile Ziele getroffen werden. Auch müssen offenbar Berichte, in denen der Ort eines Einschlags auf ein Militärziel genannt wird, vom Militärzensor abgesegnet werden. Insgesamt sind viele israelische Expert*innen kaum bereit, sich zum Thema zu äußern.
Dabei gibt es viele offene Fragen zu den Verteidigungskapazitäten Israels: In den vergangenen Wochen gab es Berichte über einen Mangel an Abwehrraketen für Israels Luftverteidigungssysteme. Laut der US-Zeitung The Wall Street Journal gehen die Flugkörper des Arrow-Systems – das Langstrecken-Hyperschallraketen abfangen soll – zur Neige. Drei Millionen US-Dollar kostet jeder Flugkörper.
Die Berichte sind nicht neu. Seit Monaten wird über die Endlichkeit von Israels Vorräten gesprochen. Und darüber, wie lange die USA ihnen darüber hinweg helfen können. Das Verteidigungsministerium äußerte sich indes nicht dazu.
Auch wie viele Raketen der Iran noch übrig hat, ist fraglich. Die Menge an abgefeuerten Raketen pro Salve hat seit Beginn der Kämpfe erheblich abgenommen, von 140 auf weniger als 20 nach Zahlen des israelischen Alma Forschungs- und Bildungszentrums. Laut Schätzungen könnte die islamische Republik etwa 1.000 bis 1.500 Raketen noch übrighaben. Etwa die Hälfte der Raketenabschussrampen dürfte ebenfalls zerstört sein.
Das größte Problem in Israel sei gerade jedoch laut Expert*innen, genug Schutzräume für die Bevölkerung einzurichten. Hier gibt es große Unterschiede: Im Gegensatz zu neu gebauten Wohnungen müssen solche, die vor 1991 erbaut wurden, nicht mit einem innenliegenden Schutzraum ausgestattet sein. Deren Einwohner*innen müssen sich auf die öffentlichen Schutzräume verlassen, die nicht immer nah sind. Auch die beduinische Gemeinschaft, die vor allem in Südisrael beheimatet ist, gilt als schutzlos. Arabische Dörfer in Israel beklagen ebenfalls einen Bunker-Mangel. Auch im arabisch geprägten Ostjerusalem sind sie kaum vorhanden, ebenso wenig im Westjordanland. Das Problem ist jedoch kurzfristig kaum zu lösen.
Bislang sind in Israel mindestens 24 Menschen durch iranische Luftangriffe gestorben, fast 1.300 wurden verletzt. Etwa 25.000 Schäden an Gebäuden wurden gemeldet, 8.000 Personen mussten ihre Häuser verlassen. Trotzdem steht die Mehrheit der Israelis laut einer Umfrage der Hebrew University und Agam Labs hinter ihrer Regierung: 83 Prozent der jüdischen Israelis befürworten demnach den Angriff auf den Iran, bei arabischen Israelis ist die Ansicht fast genau umgekehrt. Etwa die Hälfte der jüdischen Befragten fühlt sich hoffnungsvoll oder stolz, während knapp 70 Prozent der arabischen Israelis – etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung – Angst empfinden.
Jetzt, wo sich der Konflikt mit dem Einstieg der USA auszuweiten droht, ist Israel in den strengen Notstand gewechselt: Schulen sowie Restaurants und Bars ohne Schutzräume müssen schließen, Versammlungen sind verboten. Nur systemrelevante Arbeiter*innen dürfen an den Arbeitsplatz. Der Flughafen ist nahezu verwaist.
Manch einer sorgt sich bereits um die wirtschaftlichen Auswirkungen, sollte der Krieg andauern. Momentan liegt der Fokus jedoch auf physischem Schutz. Sorokas Vize-Direktor Dror Dolfin sagte am vergangenen Donnerstag: Das Krankenhaus brauche jetzt vor allem eines – dass keine weiteren Raketen Beer Scheva treffen. Doch bereits am Tag danach löst ein weiterer Einschlag Brände in der südlichen Stadt aus.
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