Vom Workshop zur Hausaufbahrung: Das Abschiednehmen üben
Barbara Rolf und Charlotte Wiedemann leiten den „ahorn Space“ in Neukölln. Das ist ein Ort der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Tod.
Hinter dem hip klingenden Namen steht ein Ort, in dem neue Konzepte ausprobiert werden sollen, die sich mit der Gestaltung von Bestattungsritualen und Trauerbewältigung, dem Lebensende und dem Sterben auseinandersetzen. Hier werden Lesungen und Workshops gehalten, Traueryoga und Endlichkeitsmeditationen veranstaltet und Kunst ausgestellt.
Gerade findet hier ein Workshop zur Hausaufbahrung statt, also dazu, wie Verstorbene würdevoll zu Hause aufbahrt werden können, um in privatem Rahmen Abschied zu nehmen. Ein lebendiger Mann liegt, in ein Leinentuch gewickelt, auf einem Altar und stellt sich tot. An ihm demonstriert Barbara Rolf, Bestatterin und die Workshopleiterin, an welchen Stelle Leichen kalt gehalten werden müssen. Das geht beispielsweise mit Kühlakkus, die in Handtücher eingewickelt werden, erzählt sie. Sie zeigt auch, dass noch eingewickelte Tamponagen senkrecht unter das Kinn geklemmt werden können, damit der Mund des Verstorbenen nicht aufgeht und offen bleibt.
Um das Abschiednehmen zu üben, schmücken die Teilnehmenden die „Probeleiche“ liebevoll mit kleinen Tonfiguren, einem Kuscheltier und Blumen. Draußen bleibt ein älteres Ehepaar stehen und schaut der Szene neugierig durch die großen Fenster aus der Dunkelheit zu. Als sich die Probeleiche aufsetzt, lächelt und ihnen zuwinkt, ist das ein skurriler, aber lustiger Moment: Am Hermannplatz scheint alles möglich.
Auch ein Experimentierfeld
Barbara Rolf leitet den ahorn Space als Team gemeinsam mit Charlotte Wiedemann, einer sogenannten Death Doula. Im Englischen wird Doula oft als Synonym für Hebamme benutzt. Eine Death Doula ist also eine Person, die Menschen nicht in das Leben hinein, sondern hinausbegleitet. Während in Deutschland die Arbeit als Death Doula kein anerkannter Beruf ist, gibt es in den USA Ausbildungsprogramme hierfür.
Rolf und Wiedemann erzählen, der ahorn Space biete den Raum für die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Tod – sei aber auch ein Experimentierfeld. Dabei sieht es hier auf den ersten Blick gar nicht nach einem Ort aus, an dem es ums Sterben geht. Die Einrichtung gleicht einem der zahlreichen Conceptstores Berlins, die ein meist ungewöhnliches und oft auch teures Sortiment anbieten. Im modernen Regal steht eine hellgrüne, selbst getöpferte Urne, es riecht nach Räucherstäbchen, der Raum ist hell.
Orte wie der ahorn Space sind Teil einer Bestattungsbranche, die boomt. Während überall akuter Azubi-Mangel herrscht, entscheiden sich immer mehr Menschen dazu, Bestattungsfachkraft zu werden – die Mehrzahl davon sind mittlerweile Frauen. Das Branchenwachstum geht dabei auf die alternde Bevölkerung zurück. Denn ein höherer Anteil älterer Menschen bedeutet eine zunehmende Zahl an Todesfällen.
So starben laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2023 in Deutschland eine Million Menschen, 15 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. Der zunehmende Bedarf zeigt sich in den erwirtschafteten Umsätzen: Innerhalb eines Jahres stiegen sie von knapp 2 Milliarden Euro 2022 auf rund 2,3 Milliarden Euro im Jahr 2023 an.
Auch das „kleine ahorn“ – wie Wiedemann und Rolf es nennen – ist ein Zweig eines großen Unternehmens, der Ahorn Gruppe, die über 285 Bestattungsfilialen in Deutschland besitzt und seit fast 200 Jahren existiert. Von der Ahorn Gruppe haben Wiedemann und Rolf die Filiale erhalten, die die Räume seit den 1960er Jahren mietet. Vorher war hier Grieneisen Bestattungen ansässig, ein Berliner Traditionsbestatter, der ebenfalls Teil der Ahorn Gruppe ist. Doch dieses Geschäftsmodell hat am Hermannplatz nicht mehr funktioniert.
Angst vor dem Tod?!
Wiedemann erzählt, die Nähe zwischen Leben und Tod sei ihr bei der Geburt ihrer Tochter sehr bewusst geworden. Diese habe sie an ihre physische Grenze gebracht. „Transformativ“ nennt sie die Erfahrung heute. Geführt habe das dazu, dass ihr Interesse an dem Thema weiter gewachsen ist. Noch im Wochenbett habe Wiedemann online mit ihrer Ausbildung begonnen.
Ob sie noch Angst vor dem Tod hat? Natürlich, sagt Wiedemann. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten sei Teil der Ausbildung gewesen. Zum Teil beschäftige sie das immer noch: „Ich bin ein spiritueller Mensch, weshalb es für mich schlimm wäre, zu erfahren, dass es nach dem Tod doch nicht weitergeht.“
Ihr Ziel sei es, souverän mit den eigenen Ängsten umgehen zu können. Das funktioniere gut. Inzwischen habe sie es sogar lieb gewonnen, ihre Ängste anzusehen, sagt sie. Barbara Rolf ergänzt: „Wir müssen Angst nicht bekämpfen. Es ist ja vollkommen legitim, sich vor dem Tod zu fürchten.“ Die meisten Ängste würden daher rühren, dass die Berührungspunkte fehlen.
Das alles erzählen die beiden Frauen beim Interview im Keller vom ahorn Space. In dem Raum ist eine Grabinstallation der Künstlerin Katharina Louisa Meyer ausgestellt: Die Liegestätte ist gebettet auf echter Friedhofserde, darauf liegt ein Leinentuch, die Seiten sind mit Moos, Ästen und Kerzen dekoriert, am Kopfende ragen ein Kranz, ein Tierschädel und bunte Bänder – es wirkt wie ein Altar. Es lässt sich Probe liegen; es ist erstaunlich weich und gemütlich in dem Grab, es fühlt sich nicht schlimm an. Man merkt: In so einem Grab kann auch eine lebendige Person Ruhe finden.
Mit der Finanzierung des ahorn Space probiert die Ahorn Gruppe etwas Neues. Das Arrangement sei vergleichbar mit einem Start-up, das finanziellen Rückhalt von einem Unternehmen bekommt, finden Wiedemann und Rolf. Finanziellen Druck gebe es noch nicht so sehr. „Wir werden nicht jeden Tag gefragt: Was habt ihr verdient?“, sagt Rolf. Im diesem ersten Jahr hätten die beiden nur zeigen sollen, dass es überhaupt möglich ist, zum Beispiel mit Veranstaltungen am Hermannplatz Geld zu verdienen. Derzeit seien Wiedemann und sie dabei, auszuprobieren, für welche Angebote Menschen bereit sind, Geld zu zahlen.
Für ein Gespräch oder einen Tee
Wiedemann und Rolf betonen jedoch, dass es nicht nur ums Geld geht. Und tatsächlich gibt es im ahorn Space bepreiste und unbepreiste Angebote. Der Hausaufbewahrungsworkshop kostet etwa 49 Euro – ein fairer Preis für ein Format mit viel fachlichem Input, findet Wiedemann.
Im Laden finden zum Beispiel auch offene Gesprächsrunden für Trauernde und Tröstende statt, die kostenlos sind. „Das Nichtvorhandensein von Geld darf nicht ausschließen, hier zu partizipieren“, sagt Rolf. Es gelte das Versprechen, dass Leute immer für ein Gespräch oder einen Tee in dem Space eingeladen seien, am besten mit Anmeldung, um ihre Fragen stellen zu können oder weiter vermittelt zu werden.
Eine konkrete Ziel- oder Altersgruppe gebe es nicht. Und bislang sei die Resonanz gut, erzählt Wiedemann von den ersten Begegnungen: Eine ältere Dame aus dem Kiez habe nach ihrem Besuch im ahorn Space am nächsten Tag selbst gebackenen Kuchen vorbeigebracht. Und ein junger Mann habe sich zu seinem 30. Geburtstag in das Grab im Keller gelegt. Wiedemann erzählt, er habe seine Endlichkeit spüren und eines Freunds gedenken wollen, den er in diesem Jahr verloren hat.
Beim Workshop zur Hausaufbahrung sind viele der Teilnehmenden Branchenkolleg*innen, einige sind selbst Bestatter*innen. Die Teilnehmer*innen sprechen offen darüber, wie sich die Branche verändert, auch über den Tod oder Verstorbene wird ohne jedes Tabu geredet. Im ersten Moment ist diese fehlende Vorsicht befremdlich. Doch in diesem Raum ist Tod etwas absolut Normales und Natürliches. Genau das ist es, worum es geht: einen Ort zu schaffen für Menschen, für die der Tod ein Lebensthema ist.
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