■ Vom Nachttisch geräumt: Wunderheiler
Wer schon immer den Verdacht hatte, daß die dicken Säuglinge in den Kinderwagen ihn mit großen Augen beobachten und jedes Wort verstehen, für den gibt es jetzt das Buch zum Alptraum: „Das Kind, das eine Katze sein wollte“. Die Autorin Caroline Eliacheff ist Psychoanalytikerin. Eine Schülerin des Gurus der Pariser Schule: Jacques Lacan. Seit 1987 betreut sie als Nachfolgerin der auch bei uns bekannten Françoise Dolto die Kinder des Säuglingsheimes von Antony bei Paris. Eine beeindruckende akademische Ahnentafel. Aber nichts gegen die Schauder, die einen bei der Lektüre des Buches überrieseln.
„Das Kind, das eine Katze sein wollte“, heißt Mathias. Als Frau Eliacheff Mathias kennenlernt, ist er siebzehn Monate alt und leidet unter schweren Atembeschwerden, die im Krankenhaus nicht geheilt werden konnten. Die Ärzte dort überwiesen ihn in die psychoanalytische Kinderklinik. Caroline Eliacheff fielen sofort die merkwürdigen Geräusche auf, die der kleine Junge beim Ein- und Ausatmen machte. Nach einer Stunde erklärt sie ihm, sie habe den Eindruck, seine Mutter habe Katzen lieber als Menschen, darum wohl mache er diese Geräusche beim Atmen. Aber es habe keinen Sinn, daß er zu schnurren versuche. Er sei nun einmal ein Mensch und könne keine Katze werden.
Diese beiden Töne bestimmen das ganze Buch: Bei der Diagnose von bewundernswerter Hellsichtigkeit und Sensibilität übernimmt Frau Eliacheff in der Therapie die Rolle einer strengen, aber gerechten Gouvernante, die dem Baby die Dinge sagt, wie sie sind, und nun soll das gefälligst sich zusammennehmen und mit dem Blödsinn aufhören.
Mathias legt sich gern auf den Rücken, den Kopf zwischen den Füßen der Säuglingsschwester. Die Analytikerin sagt ihm: „Du bist Mathias C., du bist keines der Tierbabys, die deine Mutter so sehr liebt, du bist ein Menschenbaby.“ Eliacheff erklärt: „Bei diesem Wort, das ich sehr betone, antwortet er zum allgemeinen Erstaunen klar und deutlich mit einem Ja.“
In den Gesprächen, das die Analytikerin mit den Eltern führt, stellt sich heraus, daß die Mutter nicht nur ihre Katzen mehr liebt als die Kinder, sondern auch versucht ihre Kinder zu dressieren, wie sie es mit ihren Tieren macht. Mathias hat seine Mutter sehr gut verstanden. Zu gut.
Die zwanzig Monate alte Mélina war Zeugin, wie ihr Vater ihre drei Jahre alte Schwester sexuell mißbrauchte und tötete. Ihre Mutter saß im Gefängnis wegen Beihilfe. In der Behandlungsstunde, in der man der Analytikerin davon erzählt, wie die zwanzig Monate alte Mélina das erste Mal ihre Mutter im Gefängnis besuchte, liegt das Kind auf dem Rücken, hält die Hand der Säuglingsschwester fest und schreit ununterbrochen. „Ich sage ihr, daß sie ihre Mutter wohl sehr liebe, da sie ihr so stark vorwerfe, sie verlassen zu haben. Ihre Mutter habe diese Trennung nicht gewollt: sie habe diese wie sie selbst auf sich nehmen müssen, aber nun könnten sie sich wieder sehen. Da Mélina die Haltung eines Babys in der Wiege einnimmt, sage ich ihr, daß sich ihre Mutter, als sie ungefähr das Alter hatte, wie sie jetzt daliegt, um sie gekümmert hat, daß sie noch nicht von ihr getrennt, ihre Schwester noch nicht tot und ihr Vater noch nicht im Gefängnis gewesen sei. Daraufhin hört sie sofort auf zu schreien, steht auf und verläßt den Raum.“
Von solchen plötzlichen Heilungen, die allein durchs Besprechen bewirkt werden, wimmelt es in dem Buch. Solange ich darin lese, glaube ich sie. Wenn ich später an sie denke, traue ich den Geschichten nicht mehr. So hoch kann ich das Wort unmöglich schätzen.
Caroline Eliacheff: „Das Kind, das eine Katze sein wollte – Psychoanalytische Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern“. Übersetzt von Susanne Farin. Verlag Antje Kunstmann, 194 Seiten, 29,80 DM
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