Vom Leben einer 100-Jährigen: Wie eine tapfere Maschine
„Omama“, die Großmutter unseres Autoren, lebt weiter, immer weiter. Nun ist sie 100 Jahre alt geworden. Doch wie erstrebenswert ist es, so alt zu sein?
Wenn ich in der Zeitung von Menschen lese, die irgendeinen Altersrekord aufgestellt haben oder mit 117 Jahren in einer nordjapanischen oder süditalienischen Provinz gestorben sind, wird immer eine Formel für langes Leben mitgeliefert: Jeden Tag einen Kräuterschnaps, drei Zigaretten, ein rohes Ei. Nie Knoblauch. Immer Knoblauch. Wie so ein Rezept.
Bei Omama würde mir nichts Griffiges einfallen. Sie hat viele Jahrzehnte lang Patiencen gelegt. So lange sie noch konnte, hat sie sich jeden Abend 40-mal auf die Zehenspitzen gestellt. Sie trinkt bis heute jeden Nachmittag Kaffee mit Milch und isst gern und oft eine Kugel Vanilleeis.
Omama – die Mutter meiner Mutter – ist seit Ende August hundert Jahre alt. Hundert. Jahre. 2017 soll es in Deutschland 16.500 Menschen gegeben haben, die hundert oder älter waren, inzwischen dürften es ein paar mehr sein. Sie ist jetzt eine von ihnen.
Auf Eleganz legte sie immer viel Wert
An ihrem 100. Geburtstag trägt Omama eine schneeweiße Hose, eine weiß-marineblau gestreifte Bluse und eine hellblaue Strickjacke. Dazu Perlenohrringe. Elegant sieht sie aus, darauf legte sie immer viel Wert. Den Geburtstag verbringt sie die meiste Zeit in ihrem Rollstuhl, den man bequem nach hinten kippen kann, und döst. Ihr Mund ist offen, ein Gebiss trägt sie seit einiger Zeit nicht mehr; es verrutscht doch nur und macht das Atmen schwer.
Den Abgesandten des Bürgermeisters, der sich angekündigt hatte, haben wir ausgeladen. Gekommen sind drei von Omamas Kindern, zwei Enkel und ihr einziges Urenkelkind, 98 Jahre jünger als sie. Dazu eine ältere Dame, die sich ehrenamtlich um Omama kümmert, und zwei Überraschungsgäste: Vormittags ein anderer Bewohner aus dem Altenheim, der zufällig auftaucht und dem wir ein Glas Orangensaft in die Hand drücken. Leider macht er sich nach einigen Minuten in die Hose, was alle merken, außer er selbst. Und nachmittags der Pfarrer der St.-Marien-Kirche, in der Omama getauft und getraut wurde und deren Gemeinde sie nun wieder angehört. Vorher getroffen hatte er Omama noch nie.
Als Lotte Erika Matthaei am 29. August 1918 in Osnabrück auf die Welt kommt, das zweite Kind eines Bankangestellten und der Tochter eines Zigarrenfabrikanten, ist der Erste Weltkrieg noch nicht vorbei. Bei der Machtergreifung der NSDAP 1933 ist sie 14 Jahre alt, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 21 und kurze Zeit später verheiratet. 1937 hatte Rudolf sie erst zum Tanz eingeladen und sie dann gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, eine „Landdoktorsche“ zu werden. Sie erbat sich ein wenig Bedenkzeit, wollte erst ihr Hauswirtschaftsabitur machen. Dann konnte sie.
Mit Rudolf bekommt sie vier Kinder. In Wissingen, östlich von Osnabrück, bauen die beiden ein Haus, dort arbeitet Omama in der Praxis mit und führt das Regiment im Haushalt. Damals hatte man noch Personal, die Geschichten über die „Mädchen“, die im Bedienstetenzimmer wohnten, sind lange Zeit fester Bestandteil jedes Großelternbesuchs.
Omama und Opapa sind gemeinsam im Golf- und im Bridgeklub, machen Urlaube nach England oder Spanien, legen jeden Tag eine Zankpatience, feiern die Goldene, die Diamantene, die Eiserne und die Gnadenhochzeit, ziehen 2007 gemeinsam ins Altenheim in Osnabrück. Nur wenige Straßen davon entfernt ist Omama als Kind aufgewachsen, an jeder Ecke warten Erinnerungen.
Immer wird es etwas weniger
2010 stirbt Opapa, mit 98 Jahren. Damals ist Omama noch etwas zu agil für „Haus C“ im Altenheim, das für die Pflegefälle vorgesehen ist. Doch das ändert sich. „Es ist schon wieder etwas weniger geworden“, berichtet meine Mutter immer, wenn sie wieder von Oldenburg aus für einen Tag nach Osnabrück gefahren war. Das Sehen war schon lange nicht mehr gut bei Omama, eine Makulardegeneration trübt ihr Gesichtsfeld. Hören ist auch schwierig. Der Aktionsradius verengt sich auf die zwei, drei Straßen rund ums Altenheim. Sie geht immer früher ins Bett, weil der Pflegerhythmus es so vorsieht.
Am stärksten aber lässt ihr Gedächtnis nach. Irgendwann weiß man nicht mehr, ob sich Omama am nächsten Tag noch an den Besuch erinnert. Irgendwann weiß man dann, dass es nicht so ist.
Die Gesprächsinhalte wandeln sich. Erst sind sie noch ein Austausch über den Mikrokosmos Altersheim, Arztbesuche, Ärger mit den Pflegerinnen. Später dann Erlebnisse aus Omamas Kindheit, ihr Auftritt als Grundschülerin bei einer Inszenierung der „Puppenfee“, die Zeit in Norwegen, wo Omama zwischen Abitur und Hochzeit einen Sommer verbrachte, eines der aufregendsten Ereignisse ihres Lebens. Am Ende ist es nur noch ein Abrufen und Vergegenwärtigen der Familienverhältnisse. „Weißt du, wer ich bin? … Der Sohn von Ulla … Genau, Michael … aus Berlin.“
Es gibt im Altenheim einen grausam benannten Ort: die „Oase“. Dort sammelt das Pflegepersonal die Menschen, die fast nichts mehr können, damit sie nicht allein in ihren Wohnungen herumsitzen, und um sie besser im Blick zu haben. Dort vorbeizulaufen fand ich immer etwas unheimlich. Inzwischen ist das der Ort, an dem Omama ihre Tage verbringt.
Was bleibt, sind taktile Reize
Seit einem leichten Schlaganfall zu Beginn des Jahres redet sie nun praktisch nichts mehr. Wie viel sie noch hört und sieht, weiß niemand. Was bleibt, sind taktile Reize. Man kann ihre Hand halten oder ihr über die Wange streicheln. Ich bin wirklich nicht der Anfasstyp, aber es geht leidlich gut.
Überhaupt hatte ich keine besonders ausgeprägte Beziehung zu Omama, nicht diese spezielle und gern romantisierte Enkel-Großeltern-Verschworenheit. Als Kind war ich regelmäßig bei ihr und Opapa, weil man das halt so macht, damals kamen mir die beiden eher etwas einfach gestrickt vor (was, wie ich inzwischen weiß, in Wirklichkeit am Kontrast zu meinem hochakademisch-verklemmten 68er Elternhaus liegt): Es lief öfter mal der Fernseher, Opapa liebte derbe Sprüche, und Omama machte so Oma-Sachen wie Essen kochen und reden, denn Ruhe ertrug sie schwer.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Omama war eine ganz eigene Mischung aus elitebewusst und bodenständig, sie war gleichzeitig warmherzig und streng, und was man davon abbekam, war bei Weitem nicht fair verteilt. Ich, „unser ältester Enkel“, hatte Glück in dieser Zuwendungslotterie.
Erst als Erwachsener, als mein nostalgischer Wesenszug stärker durchkam, wurden mir die Besuche bei Omama und Opapa wichtiger. Seit 15 Jahren sind meine Mutter und ich fast jedes Weihnachten dort – denn man weiß ja nie, ob es das letzte Mal sein würde.
Vielleicht ein Wort
Am 100. Geburtstag selbst bin ich gestresst. Ich würde gern Kontakt zu Omama aufnehmen, schauen, ob sie auf mich reagiert, vielleicht mit viel Mühe ein Wort herausbringt, wie beim letzten Besuch. Aber unter den Augen meiner Mutter und meiner Tante traue ich mich das nicht, sie würden es sofort kommentieren, weil in unserer Familie immer alles kommentiert wird.
Wirklich bei Omama, mit Omama bin ich nur mittags, beim Essen in der Oase. Es gibt pürierte Linsen, Kartoffelbrei und noch irgendeine dritte Sorte Matsch, und ich versuche, ihr das Mittagessen anzureichen: Löffel bis an die Oberlippe führen und etwas stupsen, dann öffnet Omama im besten Fall den Mund. Ich kriege es nicht wirklich hin, irgendwann kommt eine Pflegerin mit osteuropäischem Akzent, nimmt Omamas Gesicht in beide Hände und spricht sie deutlich lauter an. Danach sind ihre Augen zum ersten Mal wirklich offen. Nun kann sie essen, und im Radio läuft Bryan Adams, „Summer of ’69“, selbst da hatte Omama schon mehr als die Hälfte ihres Lebens hinter sich.
Immer, wenn in den vergangenen Jahren ein Prominenter gestorben ist, hatte ich den gleichen Satz im Kopf. „Jetzt hat Omama also auch noch David Bowie überlebt.“ Jetzt hat sie auch noch Prince überlebt, Westerwelle überlebt, Hildegard Hamm-Brücher, John McCain, Hans Beimer, Aretha Franklin überlebt. Es ist doch bescheuert: So viele Menschen kämpfen verzweifelt gegen Krankheiten, ringen dem Tod noch ein paar Monate ab und sterben mit 40, 50, 60 Jahren. Omama lebt einfach immer weiter, wie eine tapfere Maschine, die ihren Ausknopf nicht kennt.
Der Tod liegt nicht in ihren Händen
Als Omama noch gesprochen hat, hatte sie zuletzt öfter den Wunsch geäußert, zu sterben: „Eigentlich könnte ich jetzt auch mal abhauen“, sagte sie dann. Aber Sterbehilfe wäre niemals infrage gekommen. Omama ist nicht übertrieben fromm, aber es war eben klar, dass ihr Tod nicht in ihren Händen liegen würde. An dieser Art von Schicksalsergebenheit mag es auch liegen, dass sie bis heute das Essen nicht eingestellt hat.
Und dabei hat es Omama ja noch ganz gut erwischt: Sie war lange mit ihrem Mann zusammen, ihre Kinder leben noch, sie hatte bisher keine größeren Schmerzen. Selbst in ihre Demenz ist sie so sanft abgeglitten, dass sie es gar nicht richtig mitbekommen hat. Es geht ihr nicht wie dem längst verstorbenen Flurnachbarn im Altenheim, der jahrelang verzweifelt nach „Gerda“ rief.
Nach dem Essen wird Omama zum Mittagsschlaf gebracht, wir gehen in die Innenstadt und kaufen einen Steiff-Hasen, ein Tier aus der Kinderedition: mit Knopf im Ohr, aber nicht so unbeweglich, sondern extrakuschelig. So einen hatte Omama zu Ostern von meiner Tante bekommen, damit sie was zum Anfassen hat, aber dann war er im Altersheim verloren gegangen.
Der kleine Steiff-Hase ist Omamas einziges Geschenk an ihrem 100. Geburtstag. Und eine Kastanie habe ich ihr heimlich in die Hand gedrückt, weil die sich so gut anfühlt. Aber ich weiß nicht, ob Omama das gemerkt hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen