: Vom Elternmörder in mildem Licht
■ Barbara Nüsse sang und las aus Bertolt Brechts „Hauspostille“ in den Kammerspielen
„In mildem Licht Jakob Apfelböck erschlug den Vater und die Mutter sein . . .“, singt Barbara Nüsse hinterm Pult, mit der Lesebrille in der Rechten spielend, ganz allein. Mit sanft-rauher Stimme zerlegt sie Brechts mitfühlende, durch einen authentischen Fall inspirierte Moritat auf einen Elternmörder, Jakob Apfelböck oder Die Lilie auf dem Felde – wenngleich dieser Tage in Hamburg ja häufiger von dem Mörder in der Heide die Rede sein mag.
In diesen Zeiten, da es bekanntlich Häme auf Gutmenschen nur so kübelt und zugleich der Hunger auf Moral wächst, hat Barbara Nüsse Brechts Hauspostille ausgegraben, entstaubt und daraus am späten Samstag abend in den Kammerspielen vorgetragen. Bittgesänge, Psalmen und Choräle, Lieder, mit denen der junge Herr Brecht klampfend reüssierte, verpackt die Nüsse nun in einen intimen Abend.
Sie spricht die Fürbitte für die rachitisch-weise Kindsmörderin, deren Sünden schwer und deren Leid groß war, oder sie erzählt die Ballade von der Hanna Kasch, als sei es ein altes Märchen, und zugleich redet die Nüsse auch so, als sei sie, die Botschafterin, dabeigewesen, als die Hanna Kasch noch das Salz für den ohnehin gestohlenen Fisch klaute und die Kinder auf ihrem Knie den Katechismus dahersagten.
Seltsamerweise bleiben die Augen trocken, und gelacht wird auch. Aus Kapiteln über geistliche Übungen weiß Barbara Nüsse lehrmeisterlich-ironisch, über ihre Lesebrille hinaus ins Publikum blickend, zu sprechen. Ob von Orges Wunschliste („von den Orgasmen die ungleichzeitigen“) oder den Abstieg hinunter in den Dschungel der Städte. „Wir waren drinnen und haben nichts genossen“, singt sie, die mit gewissem Genuß den alten Linken reanimiert, daß er wieder mal erfrischend wirkt.
Wie singt die Nüsse irgendwann gegen Ende und „gegen die Verführung“ und intoniert in sanft-angerauht geschmettertem Heilsarmee-Marsch: „Laßt euch nicht vertrösten, ihr habt nicht zu viel Zeit. Laßt Moder den Erlösten . . .“
Julia Kossmann
Weitere Vorstellung: nächsten Sonnabend, 22.30 Uhr
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