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Vollkommen irritiert

Betr.: Kritik des 2. Philharmonischen Konzerts, taz bremen vom 30.10.02

Bislang empfand ich Ihre Rezensionen fachlich fundiert und differenziert. Als ich dann Ihre Kritik zum 2. Philharmonischen Konzert in die Hände bekam, war ich vollkommen irritiert!

Die Ursache dafür war keineswegs, dass Sie offensichtlich – anders als ich – die Qualitäten des neuen Generalmusikdirektors (GMDs) Lawrence Renes sehr hoch einschätzen. Ich empfand beispielsweise seine Interpretation von Mahlers 9. Symphonie als unausgegoren und hölzern, weitgehend gekennzeichnet von Unverständnis der Mahlerschen Sprache (übrigens vertraten nach meinen Informationen auch einzelne Musiker aus dem Orchester hinter vorgehaltener Hand den Standpunkt, Renes sei offensichtlich „zu jung für Mahler“). Aber selbstverständlich kann man die Fähigkeiten von Herrn Renes auch anders beurteilen.

Nur: Ist es nötig, dabei gleichzeitig die unbestreitbaren Verdienste seines Vorgängers Günter Neuhold in Abrede zu stellen? Zumal die gleiche Schreiberin im Kommentar zum „Ende der Ära Neuhold“ vom 10.5.02 noch einen völlig gegensätzlichen Standpunkt vertrat. Nun liest man in Ihrer Rezension vom 14./15.9.02 (bereits Renes‘ Amtszeit, d. Red.) von einem „Neuland in Klangraffinesse und Sensibilität“, und in der Kritik vom 30.10.02 schreiben Sie gar: „Die Bremer Philharmoniker schienen sich direkt zu sonnen in einem so neu gewonnenen Selbstbewusstsein, das ihnen in den letzten Jahren aus politischen und künstlerischen Gründen abhanden gekommen war“ (Hervorhebung von mir). Was kann man aus dieser letzten Bemerkung anderes schließen, als dass Renes‘ Vorgänger offensichtlich das Orchester in den künstlerischen Abstieg geführt hat – statt es „in eine völlig andere Klasse katapultiert“ zu haben, wie sie noch im Mai (völlig zu Recht) meinten. Abgesehen davon, dass derartige Formulierungen dem Vorgänger gegenüber recht unfair sind, wirkt es auch nicht sonderlich seriös, wenn eine renommierte Kulturkritikerin innerhalb weniger Monate eine 180-Grad-Wendung ausführt.

Im Grunde haben Sie nun genau das getan, was sie in Ihrem Kommentar vom Mai noch so scharf als „böswillig“ geißelten: Sie haben sich die Argumentation des Orchesters zu eigen gemacht, um die zwischenmenschlichen Probleme zwischen diesem und Herrn Neuhold auf eine künstlerische Ebene zu übertragen und damit den Ruf des ehemaligen GMDs zu beschädigen. Es wäre zu begrüßen, wenn Sie künftig nicht mehr das Fundament eines differenzierten Kritikansatzes verließen und sich nicht selbst durch unverständliche Widersprüche als ernst zu nehmende Rezensentin diskreditieren würden.

Angelika Schlepper

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