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"Volksversammlung" zu Stuttgart 21Eine Minute für Gegner, eine für Fans

Bei der ersten "Volksversammlung" in Stuttgart demonstriert Ministerpräsident Kretschmann Bürgernähe - und erlebt das Dilemma der Koalition im Bahnhofsstreit.

Winfried Kretschmann hat das Dilemma der koalitionären Uneinigkeit vor Augen. Bild: rtr

STUTTGART taz | Als Winfried Kretschmann am Mittwochabend auf der Stuttgarter Rathaustreppe steht, bekommt er einen Spiegel seiner eigenen grün-roten Koalition vorgehalten. Vor dem Grünen hat sich eine Menschenmenge versammelt, in der die einen "Oben bleiben!" rufen. Und die anderen: "Weiterbauen!"

Es ist die erste sogenannte Volksversammlung, die die Stuttgarter zum Gespräch mit ihrem Ministerpräsidenten zusammenbringt. Der Abend zeigt, in welcher Bredouille Kretschmann steckt, wenn er den gordischen Knoten im Dauerstreit um Stuttgart 21 durchschlagen will - mit einer gespaltenen Koalition in einer gespaltenen Stadt.

Es war die erste Veranstaltung, bei der S21-Fans und -Gegner in dieser Form aufeinandertrafen. Allerdings war die erste Gruppierung deutlich in der Minderheit. Ins Leben gerufen hatte die Versammlung Gangolf Stocker, der Vater der S21-Bewegung. "Das Selbstbewusstsein ist in den letzten drei Jahren unheimlich gewachsen. Die Leute wollen mitreden", sagte er der taz.

Für Kretschmann war es eine Selbstverständlichkeit, daran teilzunehmen. Denn nichts hat sich die neue Landesregierung größer auf die Fahne geschrieben als Transparenz und Bürgernähe. "Man muss einfach auch den ganz direkten Kontakt mit den Menschen suchen", sagte der Ministerpräsident vor den rund 3.000 Leuten. Vorgetragen wurden vor allem Fragen zum geplanten Tiefbahnhof: etwa zum Stresstest oder zur Aufklärung des "schwarzen Donnerstags", als die Polizei mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vorging. Interessierte konnten auf einem von vier kleinen Podesten mit Mikrofonen sprechen. Jeder hatte eine Minute Redezeit, dann ertönte ein Gong - auch bei Kretschmanns Antworten.

Dabei sagte dieser auch Worte, die die Leute nicht gern hörten, etwa: "Jede Seite hat gute Argumente" und in einer Demokratie gehöre so ein Streit wie der über S21 dazu. Auf die Frage, ob die Bürger ihm und seiner Regierung mit einem verstärkten Protest helfen könnten, wenn die Bahn die Bauarbeiten wieder aufnehmen wolle, antwortete Kretschmann ausweichend. Er könne nicht die Drohkulisse der Bahn kritisieren und selbst eine aufbauen.

Gegenseitiges Zuhören: verbesserungsbedürftig

Deutlich signalisierten vor allem die S21-Gegner, was sie von Aussagen von S21-Befürwortern hielten. "Was wir noch lernen müssen, ist, bei anderen Argumenten weniger zu buhen", sagte anschließend eine Frau. Auch Kretschmann sagte gegenüber Journalisten, das gegenseitige Zuhören sei noch verbesserungsbedürftig. Entsprechend hielt ein S21-Befürworter "den Versuch der Neutralisierung" für gescheitert. "Ich hatte die ganze Zeit kein gutes Gefühl." Manche Reaktionen seien erschreckend und auch die Moderation sei zu einseitig gegen S21 gewesen.

Hannes Rockenbauch vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 fand das nicht schlimm. "Da machen wir keinen Hehl raus: Diese Veranstaltung ist aus unserer Bewegung entstanden." Für die ersten zwei Versammlungen sei bewusst das Thema gesetzt worden. Es werde aber noch viele andere Themen wie Energie oder Bildung geben. Dann müsse sich zeigen, ob sich das Format durchsetzen könne.

Fürs Erste schienen alle - Gegner und Befürworter, ausgebuht oder nicht - vom Veranstaltungsformat begeistert zu sein. "Inspirierend", "großartig", "gut organisiert" waren häufige Reaktionen. "Ich hätte mir nie träumen lassen, dass mal ein Ministerpräsident auf seine Bürger zukommt", sagte ein Mann. "Ich hoffe, dass das Schule macht, auch in anderen Bundesländern."

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10 Kommentare

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  • MH
    Martin Haerer

    Bürgersprechstunde auf dem Stuttgarter Marktplatz. Baden-Württemberg hat 10,7 Mill. Einwohner. Bei 2000-3000 TeilnehmerInnen ( ca. 0,02%) von einer "Volksversammlung" zu sprechen, ist geradezu lächerlich.

  • M
    Matthias

    Es gibt nur einen Weg aus dem Dilemna: alle Kosten müssen endlich auf den Tisch. Dann wir klar, dass die von der Bahn selbst definierte Schmerzgrenze von 4,6 Milliarden bei Weitem überschritten wird. So kann die Bahn ohne Gesichtsverlust aussteigen und man kann sich endlich einer sinnvollen Alternativlösung zuwenden. Ideen gibt es genug und auf ein paar Jahre hin oder her kommt es wirklich nicht an. Am Ende muss ein tragbares Ergebnis stehen, mit dem alle leben können. Wenn die christlichen Betonparteien so weitermachen, kehrt nie mehr Friede in die Stadt ein. Der nächste OB wird auf jeden Fall ein Grüner. Ist schon klar, die CDU will die Grünen zu Fall bringen, indem sie Fakten schaffen will, aus denen sie nicht mehr rauskönnen. Weit gefehlt. Ein Bauvorhaben ist jederzeit zu stoppen.

  • H
    Hr.leid

    ach ja und ich hätte gerne endlich mal

    eine einladung zur nächsten aktionärsversammlung der DB-AG damit man diesen verlogenen aufsichtsrat endlich abwählen kann!

  • T
    Torsten

    ... ich wünsche euch solche Versammlungen auch in Berlin ;) und anderswo ... dann müsstet ihr nicht so neben der Kappe diskutieren.

     

    Nochmal zum mitmeißeln: Die erste Runde von "Wir reden mit" in Stuttgart wurde von einer übergroßen Mehrheit der Anwesenden absolut positiv aufgenommen. Es standen Leute danach vereinzelt auf dem Marktplatz ... schauten versonnen drein und wußten, dass sie da gerade etwas Besonderes, etwas Neues erlebt haben. Nehmt das bitte einfach Mal zur Kenntnis bevor ihr wieder in altbekannte Diskussionsmuster verfallt. Grüne Grüße ;)

  • E
    ebse

    Typisch, daß unbedingt gleich der erste Kommentator den K21-Befürwortern Gewalt vorwirft.

     

    Wie sieht er denn die Verhältnismäßigkeit des Polizei-Einsatzes vom 30.09.2010 und dem - ehemaligen - Sonnen-Ministerpräsidenten Mappes dem VIII von Stuttgart?

     

    Ich könnte es mir wohl denken, wenn ich wöllte:

    ich behaupte weiterhin und unbenommen, daß die Deutschen mit dem Faschismus noch lange nicht fertig sind. Aber die Last liegt m.E. sicherlich schwerer auf CDU und FDP - looky looky Wikipedia - Ex-Nazis in den verschiedenen Parteien.

  • T
    Torsten

    Es war ein voller Erfolg und ich will auch die nächsten Versammlungen auf keinen Fall verpassen. Am Anfang waren S21-Befürworter laut und wollten stören. Nachdem die Spielregeln klar waren und die Diskussion begann aber nicht mehr -- einziges Ärgernis war dann, dass Befürworter ausgebuht wurde, aber auch da gab es genug Leute in der Menge, die dagegen was gesagt/gerufen haben ... was zählt: jede Frage kam an und wurde beantwortet, so kann es weitergehen :)

     

    Auf der anderen Seite: Kretschmann redet nicht um den heißen Brei ... zieht so aus'm Bauch heraus große Bögen ... zeigt aber auch eigene Positionen in wenigen klaren Worten ... das ist wirklich Klasse und war ein sehr starker Auftritt. Es war ihm ausserdem anzumerken, dass er das gern tut.

  • R
    Redsom

    Ihren Kommentar hier eingeben

     

    Sag mir, wo die Grünen sind.


    Wo sind sie geblieben?

    
Sag mir, wo die Grünen sind.


    Was ist geschehn?


    Sag mir, wo die Grünen sind.


    Wahlerfolge pflückten sie geschwind.


    Wann wird man je verstehn?


    Wann wird man je verstehn?

  • D
    dieter

    @ uli

    das mit dem totalitären Regime

    habe ich am 30.09.2010 (schwarzer donnerstag von stuttgart) auch gedacht!

    bei einem regime geht nämlich nicht die bevölkerung auf die bevölkerung los sondern die exekutive auf die bevölkerung so wie wir es auch letztes wochenende in spanien gesehen haben!jedenfalls die welche die augen nicht verschliessen oder grade ihr geld zählen!

    extra noch mal für dich:

     

    http://www.youtube.com/verify_age?next_url=http%3A//www.youtube.com/watch%3Fv%3DSdFc3sgzz1s

     

    aber leute wie sie haben wahrscheinlich noch mitleid mit den sicherheitskräften die sich einen

    tennisarm zugezogen haben beim eindreschen!

  • H
    hr.leid

    der artikel hört sich wieder so an

    als ob 50% für und 50% der hier zum grössten teil stuttgarter versammelten dagegen sind (gegen das bahnhofsprojekt s21) nicht neubaustrecke! die auch mit dem alten bahnhof den zeitgewinn beschert!

    warum haben denn die für S21 alle angst vor einer volksabsimmung und verhinderten sogar eine volksbefragung! das hat nichts mit demokratie zu tun!!eher mit einer diktatur!

    man braucht befürwortern (die erfahrung habe ich gemacht) nur zu empfehlen die schlichtung auf flügel tv anzuschauen das sie begreifen das bei s21 nur gelogen wurde und immer noch wird!

    dort(flügeltv) ist übrigens auch die bürgerversammlung über die hier berichtet wird nachzusehen! jeder war eingeladen - ich war selbst nicht dort aber schaut es euch an und macht euch euer eigenes bild!

    das gespaltene volk ist nicht das dilemma - die meissten sind nämlich dagegen!die spd wird ein dillema bei der nächsten wahl erleben (bundestagswahl) wenn sie nicht auf ihre basis hört!

    dort sind (komischerweise warum nur) die meissten auch dagegen!

    http://21einundzwanzig.de/351/spd-basis-will-mitgliederbefragung-uber-s-21-erzwingen

     

    das erste was ich von den pro s21 leuten zu hören

    bekam _ sauerei wir waren gar nicht eingeladen.

    jeder war eingeladen! manche brauchen vielleicht eine extraeinladung weil sie es gewohnt sind privilegien gegenüber der (normalen) bevölkerung

    zu haben.

  • U
    Ulli

    Die Veranstaltung war eine einzige Farce. Wenn man ein Argument für den Bahnhofsneubau formulieren wollte, wurde man sofort als Faschist bezeichnet und fast niedergeknüppelt. Sind sich die Stuttgart-21-Gegner eigentlich im klaren, dass ihre Methoden inzwischen an totalitäre Regime erinnern?