Volksentscheid zu Stuttgart 21: Die Wut der Bürger ist verraucht
Die Proteste gegen den umstrittenen Bahnhofsneubau in Stuttgart sind ein Jahr nach ihrem Höhepunkt weitgehend verebbt. Und dafür gibt es auch gute Gründe.
Mitten im Einkaufsgetümmel stapelt Hannes Rockenbauch Milliardenpakete aus Pappschachteln aufeinander. Das Aktionsbündnis für den Erhalt des Kopfbahnhofs hat Medienvertreter zu einer Presseaktion geladen. Der Ort ist mit Bedacht so gewählt, dass der Bahnhof auf der Blickachse im Hintergrund liegt - das gibt gute Bilder für die Fotografen und Kamerateams.
Rockenbauch steigt auf eine Leiter und korrigiert mit einem Filzstift die aufgedruckten Kosten für den Bahnhofsneubau nach oben. Klar und knapp bringt er seine Botschaft rüber und schließt mit dem Satz: "Diese 6,5 Milliarden Euro können Sie sich mit einem Ja zum Ausstieg einfach sparen."
Danach werfen er und zwei Mitstreiter grüne Milliarden-Geldscheine in die Luft, gern auch noch ein zweites Mal, weil die Kameras noch nicht alles mitbekommen haben. Routiniers auf beiden Seiten, man kennt sich, lange genug schon protestieren die Bahnhofsgegner gegen das Verkehrsprojekt.
Am 27. November ist der landesweite Volksentscheid über den Ausstieg Baden-Württembergs aus der Finanzierung von Stuttgart 21 angesetzt, aber kaum ein Passant nimmt Notiz von der Aktion. Ein älteres Ehepaar bleibt stehen, ein Jugendlicher brüllt: "Stuttgart 21 ist super!", mehr nicht.
Geburt der Wutbürger
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Vor einem Jahr war das noch ganz anders. Damals gingen Woche für Woche mehrere zehntausend Demonstranten auf die Straßen. Die Stimmung war aufgeheizt, der Neubau des Bahnhofs war das Gesprächsthema Nummer eins: in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Kneipe. Und es waren nicht nur die üblichen Verdächtigen, die auf die Straßen gingen.
Die Empörung machte sich breit in der gesamten Stadt. Die Republik registrierte erstaunt ein neues Phänomen: Ganz normale, rechtschaffene Bürger demonstrierten gegen ihre Landesregierung. Und das auch noch in Baden-Württemberg! Der so genannte Wutbürger war geboren.
Aber wie lange würde er durchhalten? Bringen die Schwaben auch beim Protestieren die Standhaftigkeit und Verlässlichkeit mit sich, die man ihnen sonst zuschreibt? Ein Jahr später sieht es zunächst nicht danach aus.
Die meisten Stuttgarter haben das Thema Bahnhof gründlich satt. Sie haben ihre feste Position zu dem Projekt, an der durch neue Zahlen kaum zu rütteln ist. Außerdem zieht sich der Konflikt schon so lange hin, dass er viele Bürger nur noch nervt.
Wenn man näher hinschaut, zeigt sich ein differenzierteres Bild. Den Wutbürgern ging es keineswegs immer nur um den Bahnhof. Sie empörten sich über eine ignorante, sich autoritär gebärdende Landesregierung, über einen ebensolchen Bahn-Konzern und über Intransparenz.
Viele Ziele erreicht
Die Landesregierung wird inzwischen von einem grünen Ministerpräsidenten geführt. Es gibt jetzt eine Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, die dafür sorgen soll, dass in Zukunft bei solchen Projekten die Bevölkerung von Anfang an besser eingebunden wird.
Die Bahn musste im Schlichtungsverfahren erstmals auf detaillierte Nachfragen eine Antwort geben und die Fakten auf den Tisch legen. Viele Ziele der damaligen Wutbürger sind also inzwischen erreicht.
Geblieben ist ein harter Kern von Aktivisten, der sich weiter intensiv um das Thema kümmert. Hannes Rockenbauch ist nicht nur einer der beiden Sprecher des Aktionsbündnisses gegen den neuen Tiefbahnhof, er sitzt auch für das Bündnis "SÖS - Stuttgart, ökologisch, sozial" im Stadtrat.
Bei der im Fernsehen übertragenen Schlichtung belebte er die Marathonsitzungen durch seine Zwischenrufe, und vielen Zuschauern gefiel der Kontrast zwischen dem großväterlich-verschmitzten Vermittler Heiner Geißler und dem 31-jährigen, ungestümen Rockenbauch.
Ein älterer Mann spricht Rockenbauch an, als er ein Café in der Innenstadt verlässt. "Gibt es denn überhaupt noch eine reelle Chance, den Tiefbahnhof zu stoppen?" Rockenbauch rattert los, führt Zahlen und Fakten an, bis er merkt, dass der Blick seines Gegenübers abgleitet, er ihm nicht mehr folgen kann.
Quorum bei 30 Prozent
Er unterbricht sich und sagt: "Es wird schwierig, das Quorum zu erreichen. Aber es ist auf jeden Fall ganz wichtig, dass Sie abstimmen und Ja ankreuzen." Der ältere Herr nickt erleichtert, dankbar dafür, dass Antworten manchmal doch ganz einfach sein können.
Um den Bahnhofsneubau zu verhindern, braucht man jetzt keine Demonstrationen mehr, sondern eine Mehrheit der Jastimmen bei der Abstimmung und eine hinreichend große Wahlbeteiligung. Das Quorum liegt bei 30 Prozent aller Wahlberechtigten.
Die ersten Anzeichen sind trotzdem positiv: Zwei Wochen vor der Abstimmung haben ähnlich viele Bürger ihre Briefwahlunterlagen beantragt wie zwei Wochen vor der letzten Landtagswahl. Das deutet auf eine hohe Wahlbeteiligung hin. Auch das letzte Ziel der einstigen Wutbürger scheint erreichbar.
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