Völkermord in Ruanda: Vergangenheit, die nicht vergeht
In Ruanda werden immer noch Leichen aus der Zeit des Genozids ausgegraben. Über Täter, die schweigen, und Milizen, die weiter töten wollen.
D er süßliche Geruch von Verwesung liegt in der Luft, als Theodat Siboyintore die Gemeindehalle von Ngoma aufschließt. Das einstöckige Backsteingebäude liegt oben auf einem Hügel in der Provinz Huye, im Südwesten Ruandas. Sonst werden in dem schummrigen Raum Versammlungen abgehalten. Jetzt dient er der Aufbewahrung von frisch ausgegrabenen Gebeinen.
Am Boden liegen auf Planen Abertausende Knochen, säuberlich aneinandergereiht: Schädel, Rippen, Kiefer und Zähne. Auf Wäscheleinen quer durch den Raum hängen erdverschmierte T-Shirts, Hosen, Kleider. Auf der Tribüne, wo sonst der Gemeinderat sitzt, liegen halb verrotte Schuhe, Armreife, Taschen. Dazwischen ein Puppenkopf und ein Pferdekuscheltier. Viele Schädel, auch die der Kinder, weisen Verletzungen auf: von Spitzhacken, mit denen die Opfer erschlagen wurden – ein grausamer Anblick.
30 Jahre ist der Völkermord an der Tutsi-Minderheit in Ruanda 1994 her. Doch noch immer werden in dem kleinen hügeligen Land im Herzen Afrikas Massengräber entdeckt. Damit erhöht sich die Zahl der Opfer stetig. Schätzungsweise über eine Million Menschen wurden in nur hundert Tagen zwischen Anfang April und Ende Juli 1994 abgeschlachtet und in Massengräbern verscharrt.
Eines dieser Gräber wird derzeit in Ngoma ausgehoben, ein Vorort der Stadt Huye in der gleichnamigen Provinz, die zu Zeiten des Völkermords noch Butare hieß. Die Gemeinde erstreckt sich entlang einer geteerten Überlandstraße auf einem Hügelkamm. Rechts und links der Straße reihen sich Läden, Werkstätten, Apotheken und ein Gesundheitszentrum. Dahinter klammern sich Backsteinhäuser an den Hang. Rundherum erstrecken sich Maisfelder und Bananenplantagen. Die meisten Leute hier sind Bauern und leben von dem, was auf ihren Äckern wächst.
Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.
Theodat Siboyintore, ein großer kräftiger Mann, ist der lokale Vertreter der Organisation Ibuka, ein Selbsthilfeverband für Überlebende des Völkermordes. Als 14-Jähriger verlor er im April 1994 seine Eltern an einer der Straßensperren, die überall in dieser Gegend errichtet wurden. Er selbst konnte fliehen, versteckte sich damals in Maisfeldern. Bis heute weiß er nicht genau, wo seine Eltern verscharrt wurden. Über 1994 zu sprechen, fällt ihm deshalb schwer. Bei jedem Massengrab, das ausgehoben wird, hofft und fürchtet er zugleich, Überreste seiner Verwandten zu finden.
„Ngoma-Rugero-Straße Nr. 95“ prangt auf einem Schild an der Hauswand. Das alte, unverputzte Haus steht abschüssig am Hang unterhalb der Gemeindehalle. Eine runzlige, dürre Frau öffnet das Hoftor einen Spaltbreit. Sobald sie die Journalisten sieht, schließt sie es wieder. Von außen hört man, wie sie hastig das Vorhängeschloss verriegelt.
„Diese Leute“, schüttelt Siboyintore den Kopf: „Sie haben viel zu verbergen“, sagt er fassungslos und blickt auf die aufgewühlte Erde zu seinen Füßen. Dutzende junge Männer graben rund um das Haus mit Spaten metertiefe Löcher. Schweiß tropft ihnen von der Stirn. „Hier ist wieder etwas“, ruft einer und hebt einen Klumpen in die Höhe, der wie eine Porzellankugel aussieht, an der schwarze Erde klebt. Ein weiterer Mann, groß und hager, kommt mit einem Plastiksack an, in welchen er den Klumpen packt. Vorsichtig legt er diesen dann etwas abseits auf eine ausgebreitete Plane unter einem Zeltdach. Mit einem Pinsel entfernt er vorsichtig die Erde: Es ist ein kleiner Schädel – von einem Kind.
Über eintausend Leichen, so die vorläufige Schätzung, wurden in den vergangenen Monaten rund um das alte Haus mit der Nummer 95 geborgen. Genaue Zahlen gibt es nicht, denn gefunden werden meist nur Splitter – es ist schier unmöglich, sie zusammenzupuzzeln. Daneben kommen aber auch Macheten, Messer und Spitzhacken zum Vorschein: die Tatwaffen. Seit über sechs Monaten buddeln die Männer hier in der prallen Sonne. Mittlerweile wurde eine Fläche von der Größe eines halben Fußballfeldes umgegraben. Täglich werden Gebeine geborgen. Der Hauseigentümer, Jean Baptiste Hishamunda, mittlerweile 86 Jahre alt, saß nach 1994 lange Zeit im Gefängnis. Er hatte damals als Anführer der Hutu-Miliz Interahamwe am Ortseingang – direkt vor seinem Haus – eine Straßenblockade errichtet, um die Tutsi an der Flucht zu hindern.
Als im April 1994 nach dem Flugzeugabsturz des Hutu-Präsidenten Juvénal Habyarimana landesweit das Massenschlachten begann, suchten Abertausende Tutsi aus den umliegenden Gemeinden in der Provinzhauptstadt Butare Schutz. An der Straßensperre in Ngoma wurden sie von den Soldaten und Milizionären gestoppt und offenbar abgeschlachtet, ihre Leichen im Bananenhain neben Hishamundas Haus verscharrt.
Der 86-jährige Völkermörder war im vergangenen Jahr frei gekommen, aufgrund seines Alters und gesundheitlicher Probleme. Wieder in Ngoma zurück, vererbte er einen Teil seines Grundstücks an seine Tochter und deren Ehemann. Sie begannen dort, wo einst der Bananenhain war, ein Haus zu bauen. „Als sie die Erde aushoben, fanden sie Leichen“, berichtet Siboyintore. „Sie haben das Loch rasch wieder zugeschüttet und an einer anderen Stelle gegraben“, erzählt er und muss schlucken. „Überall, wo sie gruben, fanden sie Knochen, die sie schnell wieder verscharrten“, so Siboyintore. „Irgendwann wurden die Nachbarn aufmerksam und riefen die Polizei.“ Der alte Vater, die Tochter und deren Mann wurden fest genommen – wegen Verschleierung von Informationen über den Völkermord, so der Straftatbestand.
Siboyintore zeigt auf vier Häuser, die unterhalb der Grabungsstelle stehen. Diese wurden erst nach 1994 errichtet. Die Behörden beantragen gerade einen Gerichtsbeschluss, diese abreißen zu lassen, so der Ibuka-Vertreter: „Wir vermuten, dass darunter weitere Leichen liegen.“ Dass viele der hastig zugeschütteten Massengräber später gefunden wurden, verdanken die Überlebenden meist den Geständnissen der Täter. In den sogenannten Gacaca-Laiengerichten – wo traditionell die Dorfgemeinschaften zusammen kamen, um Streitigkeiten zu diskutieren – wurden vom Jahr 2002 an die grausamen Verbrechen verhandelt, denn die Justiz war zusammengebrochen.
Die landesweit 12.000 Dorfgerichte bewältigten die umfangreichste juristische Aufarbeitung, die die Welt je gesehen hat. Sie verhandelten in knapp zehn Jahren fast zwei Millionen Fälle und verurteilten über eine Million Täter. Diese mussten vor der versammelten Gemeinde ihre Taten gestehen, die Massengräber zeigen und die Angehörigen ihrer Opfer um Vergebung bitten. Nur so erhielten sie Strafnachlass, um Sozialarbeit zu leisten, anstatt in einem der überfüllten Gefängnisse schmachten zu müssen.
„Bis heute gibt es jedoch Leute wie Hishamunda, die schweigen“, sagt Siboyintore. In den Aussagen vor dem Haftrichter im Februar hatte die Familie erklärt, die Leichen in ihrem Garten seien aus der Zeit der großen Dürre in den 1940er Jahren, als ein Drittel der Bevölkerung an Hunger verstarb. Dies bestätigen die Staatsanwälte der Völkermord-Sucheinheit gegenüber der taz. „Sie leugnen ihre Taten bis heute“, so Siboyintore.
Manche Täter sind auch 30 Jahre später noch auf der Flucht. Sie sind im Juli 1994, als die Tutsi-Guerilla unter dem heutigen Präsidenten Paul Kagame das Land nach jahrelangem Bürgerkrieg letztlich einnahm, in die benachbarte Demokratische Republik Kongo geflüchtet. In den Flüchtlingslagern und dichten Wäldern des Kongos gründeten sie später die Hutu-Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas) mit dem erklärten Ziel, Ruanda zurückzuerobern und die Tutsi ein für alle Mal auszulöschen.
Einer der Hauptverantwortlichen des Völkermords in der damaligen Provinz Butare war Ildephonse Nzeyimana, später ein hochrangiges FDLR-Mitglied, 2009 wurde er in Uganda verhaftet. Er wurde an das internationale Sondertribunal für Ruanda (ICTR) der Vereinten Nationen in der tansanischen Stadt Arusha überstellt, welches für die strafrechtliche Verfolgung der Haupttäter des systematischen Massenmordes verantwortlich war.
Nzeyimana war 1994 Offizier an der Militärakademie ESO in Butare, zuständig für Operationen und Aufklärung. Mitte April 1994, so die Aussagen von Zeugen und Mittätern vor Gericht, wies er seine Untergebenen an, rund um Butare Straßensperren zu errichten. Verantwortlicher für diese Blockaden, so geht es aus den Akten hervor, war der damals 30-jährige Unterleutnant Eziéchiel Gakwerere, heute der zweithöchste Kommandant der FDLR im Kongo. Dieser zog los und rekrutierte lokale Hutu-Jugendliche, bildete sie zu Todesschwadronen aus: die Interahamwe.
„Die Jugendlichen wurden auf Pick-ups in die Militärakademie gebracht“, erinnert sich Ibuka-Vertreter Siboyintore an den April 1994: „Nach dem Training wurden sie von den Soldaten an den Straßensperren abgeladen – mit Macheten und Spitzhacken bewaffnet“, berichtet er. „Wir bekamen Angst und Panik.“
Gakwerere wurde später für den Mord an einem eher symbolischen Opfer berühmt und berüchtigt: Rosalie Gicanda, die hochbetagte Witwe des 1959 verstorbenen ruandischen Königs und die letzte noch in Ruanda lebende Repräsentantin der jahrhundertealten Tutsi-Monarchie. Auf Nizeyimanas Befehl hin wurde die 80-Jährige aus ihrem Haus geholt und in einem Wald nahe Butare erschossen. Gakwerere war einer der Beteiligten, möglicherweise auch einer der direkten Mörder, so die Zeugenaussagen in Arusha.
Die Militärakademie ESO lag nur knapp drei Kilometer von Ngoma entfernt, am Stadtrand von Butare. Heute ist auf dem weitläufigen Gelände eine polytechnische Berufsschule untergebracht. Das Hauptgebäude, wo 1994 Oberst Nzeyimana sein Büro hatte, wurde abgerissen. Derzeit entsteht dort ein hochmodernes, sechsstöckiges Verwaltungsgebäude aus Glas. Der Paradeplatz davor, wo Nzeyimana laut ICTR-Urteil am Morgen des 7. April Unteroffizieren wie Gakwerere den Befehl zur Massentötung gab, ist heute ein Fußballfeld. Nur die einstöckigen Backsteinhäuser mit den Klassenzimmern erinnern noch an die grausame Vergangenheit.
Eine von Gakwereres Straßensperren wurde direkt unterhalb der ESO errichtet, kurz vor Ngoma. Entlang dieser Straße lagen auch die Kasernen, wo die ESO-Unteroffiziere schliefen. Direkt davor hatten die Soldaten eine weitere Blockade errichtet. Nach 1994 wurde die Kaserne plattgemacht. Heute ist dort eine Filiale des ruandischen TÜVs untergebracht, um Fahrzuge zu inspizieren. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite ist eine Gedenkstätte: Darunter liegt ein Massengrab mit rund 4.000 Opfern.
Nicht einmal 800 Meter weiter den Hang hinab liegt in Sichtweite das Haus mit der Nummer 95 und dem jetzt erst entdeckten Massengrab. In den Arusha-Zeugenaussagen wird die dortige Straßensperre im Zusammenhang mit Gakwerere nicht erwähnt. In den zahlreichen Verfahren vor den Gacaca-Laiengerichten in der Gemeinde Ngoma, denen Ibuka-Vertreter Siboyintore jahrelang beigewohnt hatte, um Informationen über den Verbleib seiner Eltern zu erhalten, wurde zwar die Straßensperre unter Kontrolle des örtlichen Interahamwe-Führers Hishamunda verhandelt, dass in der Bananenplantage hinter seinem Haus Leichen verbuddelt wurden, das haben die Täter allerdings nicht gestanden. „Dass sie bis heute schweigen, ist für uns Überlebende unerträglich“, so Siboyintore. „Dass viele noch immer auf freiem Fuß sind, macht Vergebung fast unmöglich.“
Die Grenze zum Nachbarland Kongo, wo sich die FDLR seit Jahrzehnten verschanzt, ist nicht weit von Ngoma. Dazwischen liegt der malerische Kivusee, der die beiden Länder voneinander trennt. Nördlich davon erhebt sich eine Kette erloschener Vulkane – wo auch die seltenen Berggorillas leben.
In Ruanda herrscht heute Frieden. Doch jenseits der Vulkane im Kongo gibt es seit Jahrzehnten Krieg. Entlang der Grenze wird derzeit heftig gekämpft. Grund dafür ist vor allem die FDLR, die für Ruanda bis heute ein enormes Sicherheitsrisiko darstellt. Ruandas Armee hat die kongolesischen Tutsi-Rebellen der M23 (Bewegung des 23. März) ausgerüstet und eigene Truppen in den Dschungel geschickt, um dort die FDLR zu jagen. Ihr Ziel: die letzten mutmaßlichen Völkermörder wie Gakwerere auszuschalten und die einfachen Kämpfer nach Hause zu bringen.
Am Fuß der erloschenen Vulkane schmiegen sich in dem kleinen Ort Mutobo im Norden Ruandas zahlreiche Backsteingebäude an einen Hang. Schon von Weitem hört man das kreischende Geräusch einer Schweißmaschine. In den Klassenzimmern lernen über hundert Männer, wie sie Autos und Fahrräder reparieren, Möbel und Türen zimmern. Auf den ersten Blick wirkt dieses Demobilisierungslager wie eine normale Berufsschule. Doch die jungen Männer, die hier hämmern und schweißen, sind ehemalige FDLR-Kämpfer, die in ihre Heimat Ruanda zurückgekehrt sind. Manche sind unter 18 Jahre alt, also Kindersoldaten.
Einer von ihnen ist der 28-jährige Innocent Tuyibahe. In Jeans, T-Shirt und Turnschuhen lernt er jetzt, wie man Kupplungen repariert, macht mit großer Freude seinen Führerschein. Autofahren sei immer ein Traum von ihm gewesen, sagt er. Er ist im kongolesischen Dschungel geboren, wo es keinen Asphalt gibt. Seine Eltern sind nach 1994 aus Ruanda geflohen und haben sich der FDLR angeschlossen. Von seinem 15. Lebensjahr an war er Leibwächter der höchsten FDLR-Militärführer: General Pacifique Ntawunguka alias Omega und dessen Stellvertreter, General Gakwerere, bekannt unter seinem Kriegsnamen Stany.
Nach dem Unterricht sitzt Tuyibahe im Gras auf dem Fußballplatz in Mutobo. Er wirkt noch immer angespannt. Was er erzählt, ist haarsträubend: „Unsere Kommandanten haben uns immer weisgemacht, dass die Tutsi uns unsere Heimat weggenommen haben und dass wir Ruanda zurückerobern sollen, so sei es von Gott prophezeit.“ Während er mit leiser Stimme erzählt, spielt er nervös mit einem Ring am Finger, auf welchem ein Kreuz eingraviert ist. In der FDLR spielen der katholische Glaube und göttliche Prophezeiungen eine wichtige Rolle. Fünf Mal am Tag trommeln die Militärführer ihre Kämpfer zum Gebet zusammen. Mit Prophezeiungen reden sie ihnen Mut zu: dass sie Ruanda einnehmen würden, dass sie im Kampf siegen werden. „Sie predigen auch, dass wir von den Tutsi in Ruanda getötet oder eingesperrt werden, wenn wir kampflos nach Hause zurückkehren“, so Tuyibahe.
Doch dann sei bei Gefechten im Dezember vergangenen Jahres einer seiner Kameraden von den M23-Rebellen gefasst und nach Ruanda zurückgebracht worden. Von Mutobo aus schickte er Tuyibahe eine Nachricht. „Was unsere Chefs uns predigen, ist alles nicht wahr“, stand darin. Als Verantwortlicher für die Truppe habe General Gakwerere sein Telefon kontrolliert, die SMS gesehen. „Als Strafe haben sie mich eine Nacht ans Kreuz gebunden und mir 150 Peitschenhiebe verpasst, wie Judas, dem Verräter“, berichtet Tuyibahe stockend.
In der Nacht darauf sei er dann desertiert. Nur wenige Kilometer vom FDLR-Hauptquartier entfernt ist eine Basis der UN-Mission im Kongo (Monusco). Die Blauhelme brachten ihn zurück in seine Heimat Ruanda. Dass die Völkermordideologie von 1994 in den Reihen der Hutu-Miliz bis heute fortbesteht, bestätigt Tuyibahe ohne Zögern: General Gakwerere sei in Hinsicht des Völkermords „absolut reuelos“ und „eine Ikone“, so der Ex-Leibwächter: „Jeder in der FDLR weiß: Er hat 1994 die Tutsi-Königin umgebracht.“
Dass diese Ideologie im Kreis der FDLR nach wie vor existiert, führt bis heute überall in der Region zu Konflikten. Der Fund des Massengrabs im Oktober 2023 hat auch in Ngoma die alten Streitigkeiten in der Gemeinde wieder aufkochen lassen. Die Stimmung in der Nachbarschaft ist angespannt. Junge verwahrloste Männer hocken auf der Leitplanke am Straßenrand und beobachten die Ausgrabungen genau. Auf der anderen Straßenseite sitzt Marie Claire Uwimana auf einem Hocker vor ihrem Backsteinhaus, das sie von ihrem Vater geerbt hat. Über ihre Stirn ziehen sich tiefe Falten.
Die Mutter zweier Kinder war zu Zeiten des Genozids elf Jahre alt. Sie berichtet stockend: Ihr Vater, ein Taxifahrer, war im April 1994 von ESO-Soldaten rekrutiert worden, um an dieser Straßensperre zu „arbeiten“, wie sie es ausdrückt. Ein Gericht hatte ihn später verurteilt. Er saß knapp 20 Jahre im Gefängnis, ist erst vor zwei Jahren freigekommen. „Sie haben ihn im Februar wieder festgenommen – wegen des Massengrabs“, gibt Uwimana mit leiser Stimme zu. Man merkt der 41-jährigen Frau im bunten Wickelkleid an, dass sie nur ungern Informationen preisgibt. Sie beharrt darauf: „Er hat von den Leichen nichts gewusst – und auch wir Kinder haben damals nichts gesehen!“
Bewohner von Ngoma
Vor der Hütte nebenan schüttelt ein alter gebrechlicher Mann seinen Kopf. Fast drohend hebt er seinen Krückstock in Richtung Uwimana. Der über 90-Jährige, der seinen Namen nicht nennen will, war 1959 aus Ruanda ins Nachbarland geflohen, als es bereits zu jener Zeit zu Massakern an der Tutsi-Minderheit gekommen war. „Als ich nach 1994 zurückkam, war keiner meiner Verwandten in Ngoma mehr am Leben“, sagt er und deutet mit der Krücke in Richtung Massengrab. „Diese Leute leugnen alles, was hier geschah“, sagt er sichtlich empört. „Wie sollen wir ihnen so also je vergeben?“.
Bei den aufgebrachten Worten werden die anderen Nachbarn hellhörig. Hastig kommt ein Mann im blauen Jogginganzug angelaufen, stellt sich als Beauftragter der Reservearmee vor. Er ist offensichtlich ein demobilisierter Ex-FDLR-Kämpfer, der nun zurück in seiner Heimatgemeinde für die Sicherheit zuständig ist. „Hört auf, meinen Leuten hier solche Fragen zu stellen!“, mahnt er im drohendem Ton an.
Die in Ngoma gefundenen Leichenteile sollen am 20. April dieses Jahres bestattet werden, der Tag, an dem vor 30 Jahren das Massenschlachten in Ngoma begann. Beerdigt werden sie auf dem Gelände der Gedenkstätte rund 800 Meter den Hügel hinauf, wo sich das andere Massengrab befindet. Dies wird die Konflikte beruhigen, hofft der Vertreter des Überlebendenverbandes, Siboyintore und seufzt: „Bis zur Versöhnung ist es noch ein langer Weg.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“