Völkermord an den Tutsi: Macrons blinder Fleck
Ruanda begeht den 25. Jahrestag des Völkermords an den Tutsi – allerdings ohne Macron. Der will Frankreichs Mitschuld weiterhin nicht einsehen.
Emmanuel Macron fährt nicht nach Ruanda. Präsident Paul Kagame hatte seinen französischen Amtskollegen offiziell zu den Gedenkfeiern anlässlich des 25. Jahrestags des Völkermords an Ruandas Tutsi eingeladen, als Vertreter einer neuen, unbelasteten Politikergeneration. Aber Macron sagte wegen „Terminschwierigkeiten“ ab. Und das, obwohl in einem offenen Brief über 300 Persönlichkeiten, darunter Nobelpreisträger und Menschenrechtsaktivisten, Macron aufgefordert haben, nach Kigali zu fahren und dort endlich „die Wahrheit zu sagen“.
Es geht dabei um das düsterste Kapitel der französischen Afrikapolitik: die Unterstützung aus Paris für das Regime, das in Ruanda 1994 den Völkermord an den Tutsi vollzog, bei dem eine Million Menschen getötet wurden. Seit Jahrzehnten wird darüber gestritten, ob Frankreich durch seine massive militärische Unterstützung für Ruandas damalige Armee den Aufbau der Mordmaschinerie ermöglicht hatte, die ab dem Abend des 6. April 1994 in Aktion trat, um sämtliche Tutsi und andere Gegner der Hutu-Hardliner auszurotten und damit einen Friedensschluss mit Ruandas Tutsi-Rebellen zu verhindern.
Besonders umstritten: die französische Militärintervention „Opération Turquoise“ ab dem 22. Juni 1994, nach Monaten der internationalen Untätigkeit angesichts der Massaker in Ruanda. Da besetzte Frankreichs Armee den Südwesten Ruandas, während im Rest des Landes die Tutsi-Rebellenarmee RPF (Ruandische Patriotische Front) gegen das Völkermordregime auf dem Vormarsch war. Offiziell war dies eine „humanitäre Intervention“, um dem Morden ein Ende zu setzen. Tatsächlich schützte der französische Einsatz Hutu-Völkermordtäter vor vorrückenden Tutsi-Kämpfern und ermöglichte ihnen den geordneten Rückzug in das benachbarte Zaire, heute Demokratische Republik Kongo. Dort wurden sie weiter mit Waffen ausgerüstet.
Offiziell wurde die Kumpanei mit den Tätern immer dementiert. Aber nach 25 Jahren brechen nun erstmals an der „Opération Turquoise“ beteiligte französische Offiziere das Schweigen und belasten Frankreich schwer.
Die Intervention hatte keine humanitären Ziele
Der erste war Guillaume Ancel, damals Hauptmann der Fremdenlegion. In seinem 2018 veröffentlichten Buch „Rwanda, la fin du silence“ bestreitet Ancel, dass die französische Militärintervention humanitäre Ziele verfolgt habe. Er erinnert sich, wie er am 22. Juni 1994 – dem Tag, als der UN-Sicherheitsrat grünes Licht für Frankreichs Eingreifen gab – als Offizier den Befehl erhielt, sich bei der Bereitschaftskompanie des 2. Infanterieregiments der Fremdenlegion in Nîmes zu melden. Der Einsatzbefehl lautete, auf Ruandas Hauptstadt Kigali vorzurücken, damit diese nicht an die Tutsi-Rebellen der RPF falle. Dann könnte das bereits aus der Hauptstadt geflohene Hutu-Völkermordregime – das damals als legitime Regierung Ruandas galt – wiedereingesetzt werden.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
„Wir sollten verstehen, dass wir alles tun müssten, um das Vorrücken der RPF-Soldaten zu stoppen, wenn sie östlich des Nyungwe-Waldes eintreffen“, schreibt er – der Nyungwe-Wald ist ein Naturschutzgebiet im Südwesten Ruandas. Ancels Auftrag war, vom Boden aus Luftangriffe der französischen Jaguar-Kampfflieger auf die RPF zu leiten, um einen Korridor zu schaffen, durch den seine Kompanie vorrücken könne. Er sollte dann am Boden überprüfen, ob ausreichend bombardiert worden war oder nicht und ob das nächste Ziel anvisiert werden könne.
Frankreichs Generalstab war der heikle Charakter dieser Planung offensichtlich bewusst. Nach Ancels Schilderung wurden er und seine Kameraden nicht nur wie üblich angewiesen, den schriftlichen Einsatzbefehl zu vernichten, sondern ein Offizier sammelte jedes Exemplar davon ein. Es sollte kein Beweis zurückbleiben.
Neulich in Ruanda
Die Konfrontation zwischen Frankreichs Armee und Ruandas Tutsi-Rebellen wurde in letzter Minute vermieden. Am 1. Juli 1994 befanden sich Ancel und seine Kameraden bereits abflugbereit an Bord von fünf Puma-Transporthubschraubern auf dem Flughafen von Bukavu in Zaire, als der Befehl kam, die Operation sofort abzubrechen. Man habe eine Vereinbarung mit der RPF getroffen, berichtete Hauptmann de Pressy, der diesen Befehl übermittelte: „Die Tutsi stoppen ihren Vormarsch und wir werden eine Zone schützen, die sie noch nicht kontrollieren, im Westen des Landes. Es wird eine ‚humanitäre Zone‘ unter unserer Kontrolle sein.“
Der Befehl kam direkt aus dem Élysée-Palast
So entstand die französische „Schutzzone“ im Südwesten Ruandas, bis August 1994 unter französischer Kontrolle, wo vor allem Völkermordtäter Schutz fanden. Ancel gibt seinen Dialog mit de Pressy wieder: „Wenn ich das richtig verstehe, sehen wir davon ab, die Regierung zurück an die Macht zu bringen?“, habe er gefragt. Antwort: „Ja, im Moment.“
Der Befehl zum Abbruch sei direkt vom Élysée-Palast gekommen, dem Amtssitz des französischen Präsidenten mit seiner Kommandozentrale „PC Jupiter“ in einem Luftschutzbunker. Der sozialistische Präsident François Mitterrand und seine Berater haben kalte Füße bekommen beim Gedanken, eine solche Operation öffentlich rechtfertigen zu müssen. Schusswechsel am Boden kann man als Irrtum oder ungeplante Eskalation kaschieren, Luftangriffe nicht.
Dass es den Franzosen in Ruanda nicht in erster Linie um humanitäre Belange ging, also um ein Einschreiten gegen die Massaker und die Rettung der noch verbliebenen Tutsi, zeigt auch die Affäre um Bisesero, das letzte große Tutsi-Zufluchtsgebiet im Westen Ruandas. Mehrere zehntausend Tutsi hatten sich dort vor dem organisierten Morden in die bewaldeten Hügel gerettet und wurden von Ruandas Armee belagert. Als die Franzosen in der Gegend eintrafen, wurde ihnen gesagt, dort versteckten sich Tutsi-Terroristen im Busch. Als französische Spezialkräfte am 27. Juni erste Erkundungen unternahmen, fanden sie stattdessen entkräftete und verängstigte Menschen, die „wie Geister aus dem Wald kamen“ und bettelten, mitgenommen zu werden, wie ein mitgereister französischer Journalist bereits am 28. Juni im Radio berichtete.
Französische Waffen für die Rückeroberung
Die Franzosen nahmen niemanden mit. Und anstatt sofort die Evakuierung dieser todgeweihten Menschen einzuleiten, wurden die Soldaten nach ihrer Rückkehr in ihre Basis angewiesen, nicht nach Bisesero zurückzukehren. So konnten die ruandischen Hutu-Kämpfer erst mal ungestört Bisesero angreifen und mehrere tausend Tutsi töten.
Erst nach drei Tagen, am 30. Juni, kamen erneut französische Soldaten nach Bisesero. Sie fanden noch 800 Überlebende, einen Bruchteil der Zahl drei Tage zuvor. Die nahmen sie mit und stellten dies als humanitären Erfolg dar. Auch das geschah nur, weil einige der französischen Soldaten schon nach ihrem ersten Besuch in Bisesero so schockiert waren, dass sie die begleitenden Journalisten informierten.
Dass Ruandas Völkermordarmee nach der Flucht in den Kongo neue französische Waffenlieferungen erhielt, um Ruanda von den Tutsi-Rebellen zurückerobern zu können, wurde laut Ancel ebenfalls von höchster Stelle in Frankreich befohlen. Eigentlich galt gegen Ruanda seit Mai 1994 ein UN-Waffenembargo. Manche dieser illegalen Lieferungen sind noch heute wegen der sie begleitenden illegalen Geldzahlungen Thema juristischer Ermittlungen.
Ancels Buch löste in Frankreich heftigen Streit aus. Andere ehemalige Militärangehörige dementierten empört. Aber während die Kontroverse hochkochte, erschien ein weiteres Buch mit neuen schwerwiegenden Vorwürfen: „Général, j’en a pris pour mon grade“, verfasst von General Jean Varret, dem Leiter der französischen Entwicklungshilfebehörde in Ruanda von Oktober 1990 bis April 1993. Daraus geht hervor, dass schon zu Beginn des ruandischen Bürgerkrieges im Oktober 1990, als erstmals die Tutsi-Rebellen der RPF in Aktion traten, die mörderische Absicht der radikalen Hutu-Generäle offenkundig war.
Wer die Völkermordabsichten ansprach, wurde abgesetzt
General Varret beschreibt ein Treffen mit dem Generalstabschef der ruandischen Gendarmerie, Oberst Pierre-Célestin Rwagafilita. Der Oberst habe von Frankreich schwere Waffen verlangt. General Varret habe gesagt, dafür sei die Gendarmerie nicht da. Rwagafilita habe erwidert: „Ich bitte Sie um diese Waffen, weil ich zusammen mit der Armee das Problem liquidieren werde. Das Problem ist ganz einfach. Die Tutsi sind nicht sehr zahlreich, wir werden sie liquidieren.“
General Varret schreibt, er habe bereits im November 1990 in Paris Alarm geschlagen ob der Völkermordabsichten der Hutu-Extremisten. Seine Warnung sei ignoriert worden. Stattdessen wurde Frankreichs Militärhilfe an Ruanda ausgeweitet. Und im April 1993 wurde Varret abgesetzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren