Visionäre Sicht auf den Nationalsozialismus

„Germany: Jekyll and Hyde“. Im britischen Exil 1939 schrieb der spätere Journalist Sebastian Haffner brillante Analysen über Hitler, die vielen kleinen Nazis und über den Widerstand. Ins Deutsche wurden sie erst jetzt übersetzt  ■ Von Claus-Dieter Krohn

Sebastian Haffners Untersuchung zeigt einmal mehr, wie genau deutsche Emigranten schon früh den Nationalsozialismus zu analysieren vermocht haben. „Germany: Jekyll and Hyde“ reiht sich ein in die großen zeitgenössischen Studien etwa von Franz Neumann („Behemoth“), Ernst Fraenkel („Dual State“) oder Erich Fromm („Escape from Freedom“), die bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Von der historischen Forschung in den letzten Jahrzehnten sind sie wohl präzisiert, jedoch nicht überholt worden. Anders allerdings als diese sozialwissenschaftlich orientierten Analysen zeichnet sich Haffners Studie, die ursprünglich 1940 in London erschienen war und jetzt erstmalig in einer hervorragenden deutschen Übersetzung vorliegt, weniger durch theoretische Systematisierungen aus.

Ausdrücklich erklärt der Autor, der 1938 als junger Rechtsanwalt mit seiner jüdischen Freundin aus Deutschland geflohen war, daß er keinen akademischen Zweck, sondern praktische Absichten verfolge. Vor allem wollte er die Öffentlichkeit in seinem Zufluchtsland aufrütteln, das nach dem Fiasko der Appeasement-Politik gerade in das andere Extrem, die mit dem Namen Lord Vansittart verbundene Pauschalverurteilung des deutschen Nationalcharakters zu fallen drohte.

Mit diesem in der englischsprachigen Welt damals breit rezipierten Buch, dem ein Jahr später die Studie „Offensive against Hitler“ in einer von George Orwell herausgegebenen Reihe folgte, begann Haffners bemerkenswerte Karriere als politischer Journalist.

Haffners Untersuchungsgegenstand ist das sozialpsychologische Profil der deutschen Gesellschaft, gegliedert nach der NS-Bewegung, ihren Parteiführern und Anhängern und mit Hitler an der Spitze, dann der loyalen Bevölkerung, der illoyalen Bevölkerung, der Opposition und schließlich den Emigranten. Im Mittelpunkt steht die loyale Bevölkerung, gemeint sind damit insbesondere das Bürgertum und die alten konservativen Eliten, die den Aufstieg und die Herrschaft des Nationalsozialismus gesichert haben.

Diese Milieus, die Mitläufer, Feiglinge, Opportunisten und Nutznießer des Systems, verkörperten vor allem das Doppelgesicht des Jekyll-and-Hyde-Typus, autoritätsgläubig, solange auf den Führer fixiert, wie ihre Interessen geschützt werden. Scheitert er, das war schon beim Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918 so, „betrachten diese Leute die Welt mit unschuldiger Miene, haben ein reines Gewissen und geraten außer sich, wenn sie für die Taten ihres Idols auch nur im geringsten verantwortlich gemacht werden“.

Mit der Unterscheidung von illoyaler Bevölkerung und Opposition, das heißt vor allem die verbotene Arbeiterbewegung, aber auch die Kirchen, will Haffner auf deren Versagen 1933 aufmerksam machen. Ihre Organisationen waren auf den Widerstand nicht vorbereitet und ihre Führungen hatten die einfachen Mitglieder im Stich gelassen. Verraten von den eigenen Leuten und unter dem Terror des Regimes blieb den Illoyalen nur die Möglichkeit für individuellen und damit wirkungslosen Widerstand oder der Rückzug in gesellschaftliche Nischen, um wenigstens die eigene Anständigkeit zu bewahren. Sie und die Emigranten waren Haffners Hoffnung auf ein künftiges Deutschland.

Scharf kritisiert er hierbei die Westmächte, die mit ihrer Appeasement- und restriktiven Flüchtlingspolitik diese potentiellen Verbündeten nie ermutigt und sich so mit den Nazis „auf eine Stufe“ gestellt hätten.

Furios sind nicht nur Haffners Befunde zur Herrschaftstechnik des Nationalsozialismus, dieser Mischung aus Despotie, Terror und administrativer Anarchie, zu den historischen Wurzeln, die den Aufstieg des Regimes ermöglichten, oder der „destruktiven Totalität“, die den deutschen Patriotismus seit der Reichsgründung von 1871 ausgezeichnet hatte.

Bedeutsamer noch ist der strategische Blick des Autors in die Zukunft. Drei Jahre vor den Verabredungen Churchills und Roosevelts in Casablanca erschien ihm die bedingungslose Kapitulation Deutschlands und die Zerschlagung des Reiches mit seinem „Krebsgeschwür Preußen“ als einziger Weg zu einer künftigen deutschen Demokratie, womit er sich in schroffen Gegensatz zur Mehrzahl der meisten politischen Exilanten setzte. An sie war dann auch der Appell gerichtet, ihr Scheitern von 1933 radikal zu überdenken. Diejenigen Kreise des „anderen Deutschland“, die künftig nur das Weimarer Experiment wiederbeleben wollten, dürften keinen Anspruch mehr auf politische Glaubwürdigkeit erheben.

Zwar konnte Haffner 1940 die internationalen Rahmenbedingungen des noch gar nicht absehbaren Kriegsendes kaum übersehen, doch aus der jüngsten deutschen Entwicklung leitete er treffsicher ab, daß der destruktive Amoklauf der Nazis und ihrer Helfershelfer nur in der totalen Niederlage der Deutschen und in einem Selbstmord Hitlers und seiner Führungsclique enden könne.

Auch das Attentat vom 20. Juli 1944 nahm er vorweg; ein Staatsstreich gegen Hitler sei nur aus Kreisen der konservativen Eliten im Militär denkbar, jedoch erst dann zu erwarten, wenn die Zerschlagung des Reiches durch die alliierten Kriegsgegner unmittelbar bevorstehe. Nicht allein solche präzise hergeleitete Vorausschau beleuchtet die Qualität seiner Analyse, hinter der einige zeitbedingte Fehlurteile vergleichsweise bedeutungslos erscheinen.

Spannend ist die Lektüre zudem, weil verschiedene damalige Diagnosen Haffners nach wie vor aktuell sind. Schließlich beeindruckt der unerschrockene Mut, mit dem der damalige Emigrant die Politik seines Zufluchtslandes beziehungsweise die der westlichen Zivilsationen attackierte.

Vor dem Hintergrund der jüngsten Goldhagen-These und ihren Pauschalierungen ist sein Hinweis an die Adresse der Briten und Amerikaner, daß sie den nationalsozialistischen Gegner richtiger verstanden hätten, wenn sie den Blick auf die Fürsprecher und Freunde der Nazis in ihren eigenen Ländern gerichtet hätten, ebenfalls bemerkenswert weitsichtig.

Sebastian Haffner: „Germany: Jekyll and Hyde. 1939 – Deutschland von innen betrachtet“. Aus dem Englischen von Kurt Baudisch. Verlag 1900, Berlin 1996, 284 S., Geb. 29,80 DM

Claus-Dieter Krohn ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Lüneburg