■ SURFBRETT: Virtuelle Heimat für Sudeten
Theo Waigel hat auf der Jahresversammlung der Sudetendeutschen die Regierung der Tschechischen Republik verärgert. Ein leicht durchschaubares Ablenkungsmanöver, und im Eifer des Gefechts übersah der Finanzminister mal wieder eine Zahl. Wie viele lebende, daher prinzipiell entschuldbare Sudetendeutsche gibt es? Niemand weiß es genau. Auf den landsmannschaftlichen Pfingsttreffen versammeln sich Nachkommen, Fälle also, mit denen sich eher die Genealogie befassen sollte als die Bundesregierung.
Andreas Hanaceks Website unter http://www.bawue.de/~hanacek/dgene/ dproject.htm zum Beispiel vermittelt einen Eindruck von den Schwierigkeiten, die sich hier auftürmen. Hanacek ist Genealoge aus Leidenschaft, neben dem Gebiet Nordmährens erstreckt sich sein Forschungsinteresse noch auf die Pfalz und Teile Bayerns. Nur diese extreme Begrenzung des eigenen Horizonts läßt auf gewisse Erfolge auf diesem Feld hoffen. Hanacek selbst hat es geschafft, 210 Vorfahren in 11 Generationen nachzuweisen. Es überrascht bei diesem Forscher kaum, daß sie alle seit 1630 in Nordmähren, der Pfalz und dem bayerischen Schwaben lebten. Waigels Heimat also, doch nur Fachleute können begreifen, warum der Stammbaum der Hanaceks nur 160 Personen verzeichnet. Im selben Zeitraum von 1630 bis zum heutigen Tag schwankt außerdem die Schreibweise zwischen einer eher deutschen und zwei eher böhmischen Notationen der Lautfolge.
Wie auch immer ausgesprochen, der Internet-User Andreas Hanacek dürfte einigermaßen als Sudentdeutscher passieren. Aber er ist trotzdem nur Laie in diesem hochpolitischen Fach. Mit weit größerer Systematik haben Ärzte an der Universität Gießen eine Anleitung zur Ahnenforschung im Internet veröffentlicht (http://www.med.uni-giessen.de/gene/reg/ SUD/). Schon die Einleitung allerdings könnte den Eifer dämpfen. Vor 1918 nämlich sei die Bezeichnung „Sudetenland“ nur „sporadisch für das deutsche Siedlungsgebiet in den böhmischen Ländern (Böhmen, Mähren und Öster. Schlesien)“ gebraucht worden.
Doch die Doktoren lassen sich davon nicht beeindrucken. Sie sind fest von der Existenz der Sudeten überzeugt. In der Newsgroup „soc.genealogy.german“ haben sie die nur im virtuellen Raum gegegebene Chance erkannt, ihre genealogische Versammlung über Pfingsten hinaus auf das ganze Jahr auszudehnen – und auf die ganze Welt zugleich. Denn wie es sich gehört, im digitalen Dorf ist die Gießener Site „also available in English“. nh
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