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VinylpremiereDas Gespenstische des Sounds

Tacita Deans bislang einziges Radiostück ist das winterlich gestimmte „Berlin Project“. Jetzt wurde es auf Vinyl veröffentlicht.

Ausschnitt aus dem Cover von Tacita Dean, Berlin Project (vinyl edition), 2020 Foto: Frith Street Gallery/Marian Goodman Gallery/Fundação de Serralves

Es ist ein verhangener Wintertag, wie vielleicht nur Berlin ihn kennt. Das Licht ist raumgreifend trübe, und schwere Schneeflocken wehen einen dichten weißen Schleier über Straße, Gehweg und sieben schneebedeckte Autos, die in einer Ausbuchtung parken. Alles Farbige scheint zu einem Sepiaton heruntergedimmt, aus dem das gelbe „JUNKERS“-Schild eines Klempnerladens selbstbewusst hervorleuchtet, als wolle es Walter Benjamins frühe Hymne an die Neonwerbung alle Ehre machen.

Auf dem weiß bestäubten Asphalt sind gerade und geschwungene Linien zu sehen: Zufallszeichnungen und Schatten von Aktivitäten und den Körpern, die sie unternahmen. Eine schleifende Fußspur pointiert sie. Diese Anwesenheit von Abwesendem erzeugt Spannung und die drängende Frage, was hier wohl los war.

Tacita Deans Kunst kreist immer um das Wesen der Medien, mit denen sie arbeitet, und hier trifft bereits das Cover ihres einzigen Radiostücks, „Berlin Project“ (2002), das nun auf Vinyl erschienen ist, den Kern des Hörfunks selbst: seine „Hauntology“, jene geisterhafte Energie, Konkretes aus dem scheinbaren Nichts zu erzeugen, die seit den Anfängen des Hörspiels fasziniert.

Strukturierung der Zeit

„Bipp!!!“ Zunächst höre ich eine vertraute Audiosignatur, den Ton des Zeitzeichens. Kurz, knapp und fordernd weist es auf ein zweites Charakteristikum des Mediums hin, das hier variantenreich durchgespielt wird, auf die Strukturierung von Zeit in sich verflüchtigende akustische Momente und Sensibilitätseinheiten.

Die Pressung

Tacita Dean: „Berlin Project“ (Produktion: Roger Elsgood; Tontechnik: John Hunt; Coverdesign nach einem Foto von Tacita Dean: Martyn Ridgewell), 45 €, limitierte Edition, Serralves Museum of Contemporary Art.

Was folgt, ist eine sich ausdehnende Fläche aus atmosphärischem „Noise“: Rauschen, Gurren, Regenprasseln, Bellen, Klacken. Unmittelbar körperlich spüre ich, wie der vom sichtbaren Objekt gelöste Klang in mir einen fantasieanregenden Nachhall triggert.

Dann spricht die Künstlerin mit ihrer äußerst radiogenen Stimme: „Being made finer, air becomes fire. Being made thicker it becomes wind, then cloud, when thickened still more: water, then earth, then stones. And the rest comes into being from those.“

Schöpfungsgeschichte aus dem Geist des Äthers

Tatsächlich entfaltet „Berlin Project“ über 46 Minuten eine Schöpfungsgeschichte aus dem Geist des Äthers, die an eine autobiografische Erkundung gekoppelt ist. Das Berlin von Deans Hörspiel wirkt wie ein fluider Erfahrungsraum, erschaffen aus Field Recordings, akustischen Erinnerungen, Körperspuren und Klangschatten.

Natürlich weiß Dean, dass auditive Stadt- und Selbsterforschung mehr künstlerische Aktion erfordert als ein schlichtes Aneinanderreihen von ikonischen Sounds. So verbinden sich aufgezeichnete Gespräche, Wunschbilder und einst Erlebtes mit realen Alltagsgeräuschen. Elementare Sounds und Wortfetzen (etwa aus der Damentoilette des KaDeWe) ertönen neben dem (ironisch zitierten) Leierkastenohrwurm „Das ist die Berliner Luft“.

Nahaufnahmen von neutralen Ansagestimmen aus der S-Bahn agieren wie die der jubelnden Fußballfans im Olympiastadion als semantische Elemente einer experimentellen Sounderzählung. Von ferne erinnert das an Walter Ruttmanns Hörspiel „weekend“ (1930), auch wenn der Rhythmus bei Tacita Dean weniger mechanisch und die Grenzen zwischen den Sound-Kapiteln deutlich fließender sind.

Melancholisches Stimmungsbild

Ab und zu tauchen Körpersignaturen der Künstlerin auf: wie sie Treppenstufen hinaufschnauft und einen Schlüssel im Schloss herumdreht. Dann verlässt sie die physische Ebene und fächert ein melancholisches Stimmungsbild auf, bestehend aus einem Stück von Eric Satie, gespielt auf einem verstimmten Klavier, aus hallenden Schritten in einer weiträumigen Wohnung und gegen Glas prasselndem Regen, der in das Knacken eines Feuers überblendet wird.

Kaum habe ich eine Stimmung erfasst, gleite ich in die nächste, und manchmal führt mich die Künstlerin an meine Wahrnehmungsgrenze. So zart manches Signal auffunkt und so quecksilbrig schnell sich die akustischen Eindrücke wandeln – als Erfahrung wirken sie sehr konkret nach. Es ist, wie Germaine Greer über Tacita Deans Filminstallation „Boots“ (2003) schrieb: „Sounds are solider than sight.“

Irgendwann sagt die Künstlerin Folgendes: „As our soul, being air, holds us together and controls us, so does wind or breath or air enclose the whole world.“ Entsteht darum der starke Sog dieser Soundnarration, der aus mir eine Art Durchlaufmedium macht?

Das völlige Einsinken in eine Stadt

Joseph Brodsky beschreibt in seinem Venedig-Aufsatz „Ufer der Verlorenen“ ein solch völliges Einsinken in eine Stadt oder ein Kunstwerk als psychochemisches Phänomen, das sich einstelle, wenn die elementare Beschaffenheit der BetrachterIn auf etwas trifft, das aus denselben Elementen zusammengesetzt ist.

Während die Soundstory des „Berlin Project“ mich durchdringt und durch die Zeit trägt, scheinen Satzfragmente als Residua einer spannenden Story auf. Eine dynamische alte Männerstimme deklamiert etwa: „Boots! This is your father!“ und erzählt von den „prisoner’s clothes“, die der Vater einmal zu tragen gezwungen war.

Dann erinnert sie die letzten Worte der Mutter: „It’s like going down a rabbit hole.“ Und genau so fühlt es sich an, wenn die Platte zu Ende gehört ist: als sei ich wie Alice durch einen Kaninchenbau ins Wunderland gestürzt. Das Vertraute wirkt plötzlich entrückt, fremd und neu und lädt zur Wiederentdeckung ein. Was für ein angenehmer Zustand in dieser Zeit, die mir das physische Reisen versagt.

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