Vietnamesische Azubis in Berlin: In der Schuldenfalle
In Berlin machen rund 1.600 Vietnamesen eine Ausbildung – meist für Jobs im Niedriglohnsektor. Viele rutschen unmittelbar in Ausbeutungsverhältnisse.

Die Berliner Wirtschaft hat ein riesiges Fachkräfteproblem. Schon aktuell fehlen 9.000 qualifizierte Arbeitskräfte, wobei die Zahl aufgrund der demografischen Situation in den kommenden Jahren noch sehr viel stärker ansteigen dürfte. Besonders betroffen sind dabei die Bereiche Gesundheitswesen und Pflege, Gastronomie, Handwerk und IT.
Einer der Wege, um die Lücke zu schließen, ist es, Auszubildende aus dem Ausland anzuwerben. Aber wie geht es diesen? Mit welchen Erwartungen kommen sie eigentlich nach Berlin? Und passen die, die kommen, überhaupt in die Lücken, die in Berlin zu schließen sind?
Bei der durchaus großen Gruppe der angeworbenen Auszubildenden aus Vietnam klafft zunächst erst einmal eine andere Lücke, und zwar die zwischen ihren eigenen Voraussetzungen und Lebensplänen und den Vorgaben der Wirtschaft. Ein Problem, das inzwischen auch die Politik erkannt hat.
Studie des Senats in Arbeit
So läuft aktuell dann auch eine sozialwissenschaftliche Untersuchung im Auftrag von Integrationssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) zur Ausbildungssituation und den Lebens- und Wohnumständen vietnamesischer Auszubildender in Berlin. Die Studie soll noch in diesem Jahr abgeschlossen werden, sagt Kiziltepes Sprecherin Julia Stadtfeld der taz.
Nga Ho* ist eine der aktuell rund 1.600 Berliner Auszubildenden mit vietnamesischer Staatsangehörigkeit. Die 23-Jährige lernt den Beruf der Altenpflegerin. Sie stammt aus der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi, hat Abitur, spricht fließend Englisch, Chinesisch und respektabel Deutsch, vor ihrer Ausreise aus Vietnam ein Anglistikstudium begonnen und mehrere Musikinstrumente erlernt.
Sie sagt, nach Deutschland wollte sie, weil sie lesbisch ist: „Meine Freundin und ich wollten weit weg von unseren Familien leben und deren unbequemen Fragen, wann wir endlich zur Vernunft kommen und Männer heiraten würden, Kinder bekämen.“ Die Partnerin sollte irgendwann auch als Auszubildende nach Deutschland kommen, so der Plan. Doch mittlerweile rät Ho ihr davon ab, wie sie der taz berichtet.
Ho ist nur 1,50 Meter groß. Sie sagt, der Beruf der Altenpflegerin gehe über ihre körperlichen Grenzen hinaus. Die Ausbildung abbrechen? Dann müsste sie nach Vietnam zurückkehren und bliebe auf ihren Schulden sitzen, die sie in Vietnam für die Vorbereitung auf ihre Ausbildung in Deutschland aufnehmen musste.
Ein Dilemma, aus dem Nga Ho keinen Ausweg sieht. Zumal sie mit dem Berufsbild Altenpflege in Vietnam wenig anfangen könnte, denn dort werden alte Menschen in der Regel in den Familien gepflegt. Spezielle Berufe in dieser Richtung gibt es jedenfalls nicht.
Mangelnde Deutschkenntnisse
Abitur, Deutschkenntnisse, Universität: Mit alldem unterscheidet sich Ho letztlich sogar in vielem von ihren Landsleuten, die in Berlin eine Ausbildung machen. Im Oberstufenzentrum Gastgewerbe etwa, in dem allein 700 von ihnen lernen, hat man die vietnamesischen Auszubildenden längst als Problemgruppe wahrgenommen.
Rund 90 Prozent von ihnen fehlten bei ihrer Ankunft entsprechende deutsche Sprachkenntnissen, „die es ihnen erlauben, die Ausbildung erfolgreich zu absolvieren“, sagt Schulleiter Jürgen Dietrich. Seine Berufsschule gibt sich Mühe und schaltet für diejenigen mit miesen Deutschkenntnissen ein Semester vor, das fast ausschließlich dem Spracherwerb dient. Sie bietet zwar auch darüber hinaus Zusatzunterricht an, der werde aber nicht angenommen. Wie ist das möglich?
Wer zur Ausbildung nach Deutschland kommen will, der muss, so sieht es der Bundesgesetzgeber vor, Deutsch auf dem Niveau B1 sprechen. Doch wie die künftigen Fachkräfte das lernen, bleibt ihnen überlassen.
Um diese Sprachkenntnisse außerhalb des deutschen Sprachraums zu erwerben, benötigt man fast ein Jahr täglich Unterricht. In Vietnam ist das eigentlich nur in den großen Städten Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt möglich. Wer nach Deutschland kommen will, stammt aber – anders als Nga Ho – zumeist aus den Armutsprovinzen in Zentralvietnam.
Verschuldung programmiert
Der oder die muss also in einer Großstadt mit hohen Mietpreisen ein Jahr lang wohnen und Schulgeld bezahlen. So gibt es in Vietnam spezielle Vermittlungsagenturen, die ein ganzes Paket schnüren: Wohnheim in Hanoi, Sprachkurs, Flug, Vermittlung eines Ausbildungsplatzes und eines Bettes in einem Mehrbettzimmer in Deutschland. Dafür fallen Kosten von durchschnittlich 12.000 Euro an, es wird auch von Fällen berichtet, wo 30.000 Euro gefordert wurden. Zur Einordnung: Das Durchschnittseinkommen in Vietnam liegt bei 230 Euro pro Monat.
Den Auszubildenden aus prekären Verhältnissen bleibt häufig nur ein Weg, um die Gebühren zu bezahlen: Sie müssen sich verschulden. Diese Schulden und die Last, sie zurückzuzahlen, seien letztlich auch der Grund, warum sie nicht ausreichend Zeit ins Deutschlernen investieren, heißt es aus der Community.
Hinzu kommt, dass es auch andere Wege gibt, um zu einem Zertifikat B1 zu kommen. Auch in Vietnam blüht die Korruption, wer es sich leisten kann oder muss, kann sich das Zeugnis und damit die Eintrittskarte für Deutschland auch kaufen. Oder es wird einfach jemand anderes zur Prüfung geschickt. Oder es wird Deutsch gelernt wie hierzulande Latein: stur auswendig und ohne Sprachpraxis, das Gelernte ist dann nach der Prüfung schnell wieder vergessen. Vor allem, wenn danach noch Monate bis zur Ausreise nach Deutschland vergehen.
Klar ist: Die Abhängigkeit von den Vermittlungsagenturen treibt Vietnamesen in Ausbeutungsverhältnisse. Bei einer Anhörung im zuständigen Fachausschuss des Abgeordnetenhauses im Mai wurde von Fällen berichtet, wo Betroffene deutlich mehr Stunden im Ausbildungsbetrieb ableisten mussten als zugelassen. Die Wohnverhältnisse, hieß es, seien häufig prekär. Für ein Bett in einem Schlafsaal, oft ohne Tisch zum Lernen, würden mehrere Hundert Euro fällig.
Schwunghafter Handel mit Fakeadressen
Da sich die Azubis in den Unterkünften zudem häufig nicht mal anmelden könnten, fehlt ihnen die Voraussetzung, um etwa ein Bankkonto einrichten zu können. So blüht ein weiterer Schwarzmarkt mit Meldeadressen mit bis zu 80 Euro pro Fakeadresse. Die CDU-Abgeordnete Katharina Senge forderte deshalb schon eine Weiße Liste für seriöse Vermittlungsagenturen.
Doch das Problem liegt sehr viel tiefer: Wenn in Deutschland von Auszubildenden für Berufe im Niedriglohnsektor wie Nga Ho und vielen ihrer Landsleute verlangt wird, dass sie für alle Kosten vom Sprachkurs bis zum Flug selbst aufkommen, dann ist die Verschuldung, die Abhängigkeit von den Geldgebern und manchmal auch von kriminellen Strukturen programmiert. Zum Ausbildungserfolg führt das dann eher selten.
Vor drei Jahren beschäftigte sich ein interkulturelles Team von Ethnologinnen der Freien Universität in einer Studie für den Bezirk Lichtenberg mit den neuen vietnamesischen Migranten. Die Wissenschaftlerinnen wiesen schon damals darauf hin, dass das Ziel der Auszubildenden nicht die berufliche Qualifikation in Deutschland sei, sondern allein das Geldverdienen. Wenn es mit der Ausbildung nicht klappt, würden sie andere Wege suchen.
Ähnlich formuliert es Thach Son Nguyen vom Verein Reistrommel: Die Auszubildenden seien quasi „Luxusflüchtlinge“. Ihnen blieben die Strapazen einer Flucht nach Europa erspart, sie bräuchten sich nur in das Flugzeug zu setzen. In der Tat stammen sie mehrheitlich aus denselben mittelvietnamesischen Provinzen und aus ähnlichen sozialen Verhältnissen wie vietnamesische Flüchtlinge. Doch während Deutschland die einen abschieben lässt, holt es die anderen ins Land.
Aufenthaltsrecht an Ausbildung gekoppelt
Nur ist auch das Aufenthaltsrecht der Azubis an die Ausbildung gekoppelt. Beenden sie diese nicht erfolgreich, tauchen sie oft in die Illegalität unter. Oder sie suchen den Ausweg in einem Kind von einem deutschen Mann oder Scheinvater, um dennoch bleiben zu können.
Die Studie der FU beschreibt auch eines der großen Probleme von Nga Ho. Die Auszubildenden würden ohne konkretes Wissen über ihren zukünftigen Beruf nach Deutschland kommen. Die Pflege nicht verwandter Personen etwa würde als schamhaft empfunden, körperlich seien die Azubis häufig überfordert. Aufgrund kultureller Missverständnisse fühlten sie sich überdies nicht anerkannt, in ihrer Arbeit zu Hilfskräften degradiert.
In den ersten Jahren der Anwerbung von Pflegekräften, so die Studie, wurden die Vietnamesen vor der Ausreise noch interkulturell geschult. Das Ankommen in Berlin wurde durch entsprechende Begleitprogramme alteingesessener Mitarbeiter der Kliniken gerahmt.
Doch die Rechnung ging nicht auf. Die Schulungen waren schlecht besucht, das Klinikpersonal hatte zu wenig Kapazitäten, um die neuen Kräfte aus Vietnam einzuarbeiten. Mit Konsequenzen: Der landeseigene Konzern Vivantes – obwohl ursprünglich sehr um die vietnamesischen Arbeitskräfte bemüht – hat sich inzwischen aus der Anwerbung vietnamesischer Pflegekräfte zurückgezogen. Es heißt, zu viele Kräfte aus Vietnam hätten die Ausbildung abgebrochen.
*Name geändert
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