Vietnamesen an Gymnasien: Mustermigranten werden weniger
Bislang waren junge Vietnamesen für ihre ausgezeichneten Leistungen bekannt. Doch ihre Leistungen ähneln immer mehr denen deutscher Kinder.
Sie gelten als die Mustermigranten: vietnamesische Schüler an deutschen Schulen. Zwei Drittel der Schüler mit vietnamesischem Pass machen Abi, sie sind die Leistungsträger unter den Migranten und machen die Einheimischen neidisch. Neuerdings fallen Schatten auf die Erfolgsstory. In Berlin, der Stadt mit der bundesweit größten vietnamesischen Gemeinde, rutscht die junge vietnamesische Generation in die Krise.
"Es gibt immer noch die vielen ausgezeichneten vietnamesischen Abiturienten", beruhigt Tamara Hentschel vom Berliner Verein Reistrommel. "Es kommen weniger Schüler neu auf die Gymnasien. Die Schulkarrieren werden schon im Grundschul- und Kitabereich schwieriger."
Der Erziehungswissenschaftler Olaf Beuchling von der Universität Hamburg bestätigt, dass es bundesweit einen "leichten Abwärtstrend der Zahlen vietnamesischer Gymnasiasten" gibt. "In anderen Regionen ist dieser Trend nicht so stark ausgeprägt wie in Berlin, wo etwa jeder sechste Vietnamese in Deutschland lebt."
Laut amtlicher Schulstatistik liegt der Anteil vietnamesischer Abiturienten in den alten Bundesländern, wo die Einwanderung von Familien eher begann, etwas niedriger als in den neuen.
Konfuzius' Rückzug
Der Wissenschaftler spricht von einer Folge der Integration. Die Werte gleichen sich denen der Einheimischen an. "Bildung wird nicht mehr, wie im Konfuzanismus üblich, als einziges und allerhöchstes Ziel angesehen."
Laut Beuchling muss das nicht in jedem Fall schlecht sein. "In der politischen Diskussion werden Integration und Glück viel zu stark an Bildung festgemacht. Wenn die Bildungsintegration funktioniert, ist die Integration insgesamt aber nicht automatisch gelungen."
Nguyen Thi Loan, die für ein Berliner Jugendamt tätig ist, sieht auf die Ursachen der neuen Einstellung. "Ich werde in meiner Arbeit zunehmend mit Kindern von alleinerziehenden Müttern konfrontiert, die sich nicht mehr so gut um ihre Kinder kümmern", sagt sie. Die Frauen seien oft mit Schlepperbanden nach Deutschland gereist und hätten sich dafür hoch verschuldet. Ihr wichtigstes Lebensziel heißt: Abzahlung der Schulden. Auch Vietnamforscher Beuchling erkennt, "dass auf dem Ticket der Migrationsströme mit der Zeit Menschen aus bildungsfernen Milieus mitfahren."
Nicht Kind sein dürfen
Die Initiatoren einer Berliner Fachtagung über die Bildungskrise der Vietnamesen wollen auf diese Probleme hinweisen. Wegen des Medienbildes der erfolgreichen Schüler fallen diese gern unter den Tisch.
Die Anforderungen aus dem Elternhaus, die in einem guten Bildungsabschluss der Kinder eine Garantie für die Zukunft der ganzen Großfamilie sehen, setzen die Schüler oft unter Leistungsdruck. Viele vietnamesische Schüler müssen im elterlichen Geschäft mithelfen und verfügen kaum über selbst bestimmte Freizeit.
"Es ist für professionelle Helfer oft schwer auszuhalten, wie wenig einige vietnamesische Kinder Kind sein dürfen", berichtet etwa der Familienhelfer Norbert Kaczmarek.
Die Folge: viele Jugendhilfefälle, psychische Erkrankungen und suizidgefährdete Jugendliche. Da diese Jugendliche keine Gewalt nach außen ausübten, sondern gegen sich selbst wendeten, seien ihre Probleme weniger präsent.
Ausgezeichnete Leistungen, keine Jobs
Die Vereinigung der Vietnamesen macht noch auf einen anderen Trend aufmerksam: Viele vietnamesische Hochschulabsolventen bekommen keinen Job - trotz hervorragender Noten.
"Wir haben aber keine Indizien, dass es wegen des ausländischen Namens oder des asiatischen Aussehens schwer ist, einen Job zu finden", sagt Son Thach vom Verein Vereinigung der Vietnamesen. Die Diskussion auf der Fachtagung soll Klarheit bringen.
Dietrich Lederer vom Interkulturellen Bildungszentrum Berlin-Lichtenberg vermutet die zu hohen Ansprüche an einen Job als Grund: "Ich weiß, dass Bezirksämter und Wohnungsbaugesellschaften händeringend Auszubildende mit vietnamesischen Sprachkenntnissen gesucht haben. Es fanden sich kaum Bewerber - weil die Eltern ihre Kinder lieber auf Eliteunis sehen." Berufswahl ist in Vietnam oft eine Entscheidung der Großfamilie.
Die Folge der Nichtintegration in den Arbeitsmarkt: Die jungen Betriebswirte und Ingenieure sind arbeitslos, jobben im elterlichen Geschäft oder wandern nach Vietnam aus. Dort sind Absolventen europäischer Universitäten mit vietnamesischen Wurzeln gefragt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich