Vierter Jahrestag des Halle-Anschlags: „Es ist wichtig, wie wir erinnern“
Der rechtsextreme Anschlag von Halle (Saale) jährt sich am 9. Oktober. Angehörige und Unterstützer*innen wie Alma Roggenbuck kämpfen um das Gedenken.
taz: Frau Roggenbuck, vor vier Jahren verübte ein rechtsextremistischer Täter in Halle und Wiedersdorf ein Attentat – unter anderem auf die Synagoge und den Döner-Imbiss „Kiez Döner“. Heute heißt der Ort Tekiez. Was hat sich verändert?
ist Projektkoordinatorin des Tekiez in Halle (Saale), in dem am 9. Oktober 2023 zwischen 17 und 19 Uhr des Attentats von Halle gedacht wird.
Alma Roggenbuck: Wir, also die Menschen, die den Anschlag überlebt haben, und eine Gruppe von Unterstützer*innen, haben den damaligen Kiez Döner nach dem Anschlag zu einem Frühstückskaffee umgebaut. Der Wunsch war, den Ort als das zu erhalten, was angegriffen wurde: eine migrantische Gastronomie. Letztes Jahr im Mai musste das Café aus wirtschaftlichen Gründen schließen und es war lange unklar, wie es weitergeht. Diesen Sommer konnten wir das Tekiez wiedereröffnen, nicht mehr als Café, sondern als Raum des Erinnerns und der Solidarität.
Welche Bedeutung hat dieser Ort für das Gedenken an die ermordeten Jana L. und Kevin S., ihre Angehörigen und Überlebende?
Schon seit dem Anschlag war er ein Gedenkort für Kevin, der dort ermordet wurde, aber auch für alle anderen Opfer rechter Gewalt. Und zum anderen auch ein Ort der Solidarität: Der Umbau zum Tekiez geschah in Hunderttausenden Stunden ehrenamtlicher Arbeit und wurde fast ausschließlich durch Spenden finanziert. Darin wird spürbar, was es heißt, sich solidarisch mit Überlebenden und mit Angehörigen von Opfern rechter Gewalt zu zeigen.
Wie wirken sich diese Veränderungen auf das Gedenken aus?
Antisemitischer Anschlag Vor vier Jahren, am 9. Oktober 2019, versuchte ein Rechtsextremist die Synagoge in Halle (Saale) in Sachsen-Anhalt zu stürmen, wo die Gemeinde gerade den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur feierte. Der Attentäter scheiterte an der Eingangstür und erschoss darauf die Passantin Jana L. und im nahe gelegenen „Kiezdöner“ den Gast Kevin S. Auf seiner Flucht verletzte er weitere Menschen teils schwer.
Offizielles Gedenken Am Montag wollen in Halle Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU), Bürgermeister Egbert Geier (SPD) und der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Max Privorozki, des Anschlags gedenken. Um 12 Uhr wird eine Gedenkzeremonie auf dem Hof der Synagoge stattfinden, auch am „Kiez Döner“ sollen später Blumen abgelegt werden. Um 12.03 Uhr – dem Zeitpunkt des Anschlags – sollen stadtweit Kirchenglocken läuten, Busse und Straßenbahn stoppen. Am Abend wird noch ein städtisches Gedenken auf dem Marktplatz stattfinden. Bürgermeister Geier appellierte, dass das Gedenken „nicht zum Ritual wird“, sondern „über die rechtsextreme Ideologie als Hintergrund des Anschlags fortlaufend aufgeklärt wird“. Wegen des Jahrestags und der aktuellen Angriffe auf Israel hat die Polizei aktuell den Schutz auf jüdische Einrichtungen in Halle verstärkt.
Alternatives Gedenken Um 15 Uhr lädt das Bündnis „Halle gegen rechts“ zu einem Gedenkrundgang und um 17 Uhr zu einer Kundgebung vor dem Tekiez ein. Katharina Hindelang von „Halle gegen rechts“ forderte, dass der Kampf gegen Antisemitismus „zu einem Anliegen der ganzen Stadtgesellschaft wird“. Zugleich müsse die Erinnerung an die Ermordeten im Mittelpunkt stehen. Auch der Hallesche FC, bei dem Kevin S. Mitglied war, öffnet am Nachmittag sein Stadion für ein gemeinsames Gedenken. (ko)
Dass an einem Anschlagsort überhaupt so ein Raum existiert, ist ziemlich einzigartig und vor allem das Verdienst von den Inhabern und Überlebenden İsmet und Rıfat Tekin. Sie sind in den ersten Jahren nach dem Anschlag jeden Tag an diesen Ort gekommen, um dafür zu kämpfen, dass er erhalten bleiben kann. Als Café aber auch als Döner-Imbiss war er immer schon wichtiger Anlaufpunkt im Viertel für Leute, die einen Ort gesucht haben, an dem sie über den Anschlag sprechen, aber auch aktiv werden können.
In diesem Jahr gibt es eine eigenständige Veranstaltung unter dem Namen „erinnern. kämpfen. verändern“, die vom städtischen Gedenken abgekoppelt ist. Warum geht das nicht zusammen?
Wir glauben, Erinnerung kann Veränderungen in der Gesellschaft schaffen. Dafür ist wichtig, wie wir erinnern: nämlich selbstbestimmt und solidarisch. Die Geschichte des Tekiez zeigt, dass dieses Erinnern und somit auch die Veränderung ein Kampf ist. Schon seit den Tagen nach dem Anschlag stand der damalige Kiez Döner durch das Auftreten von İsmet und Rıfat Tekin für so ein selbstbestimmtes und solidarisches Gedenken – also für ein Gedenken, das von Betroffenen gestaltet ist und durch die Arbeit von Unterstützenden, die den direkt betroffenen Überlebenden und Angehörigen zuhören.
Wir machen auch in diesem Jahr eine Kundgebung und schaffen somit einen Rahmen, in dem Überlebende des Anschlags in Halle und in Wiedersdorf, aber auch Angehörige von Opfern rechter Gewalt aus anderen Städten wie Hanau und München zu Wort kommen können und die Stadtgesellschaft und das Viertel ihnen zuhören kann.
Zuhören – ist es das, was Politik und Gesellschaft in erster Linie leisten müssten?
Die Stimmen von Überlebenden und Angehörigen werden häufig so unhörbar gemacht, dass vielen Menschen gar nicht klar ist, dass diese Stimmen überhaupt existieren. Genau das Gegenteil ist der Fall. Das Anliegen ist zu zeigen: „Hey Leute, Angehörige und Überlebende sprechen darüber und es geht nicht daran vorbei, Gedenken zu gestalten.“ Genau das erleben wir leider immer wieder. Auch wir als Unterstützende fragen uns, wen wir noch nicht erreicht haben und suchen immer den Kontakt, zu Überlebenden und Angehörigen, zu denen wir bisher noch keinen Kontakt hatten oder die bisher noch nicht bereit waren, darüber zu sprechen. Inzwischen haben wir mehr Kontakt zum Vater von Kevin S. und in diesem Jahr wird es zum ersten Mal ein Zitat vom Ehepaar geben, das in Wiedersdorf angeschossen wurde. Es ist für uns das Wichtigste, immer wieder auch Möglichkeiten zu schaffen.
In diesem Jahr werden Angehörige aus Hanau und München vor Ort sein, und auch mit Angehörigen und Überlebenden anderer rechter Gewalttaten gibt es Austausch. Was teilen sie?
Diese Vernetzung besteht schon seit Jahrzehnten und ist auch seitdem Grundlage für Aktivismus und dafür, dass sich Erinnern und Gedenken verändern. Ich finde es sehr berührend, wenn heute noch untereinander von den ersten Demonstrationen gegen den NSU gesprochen wird, die von Angehörigen organisiert wurden, oder die ersten Schritte der Vernetzung, die durch die Familien Yozgat und Kubaşık erst möglich wurden.
Durch die Anschläge von Halle, Hanau und München wird das jetzt größer, weil dort noch mal viele Menschen betroffen waren. Für uns ist diese Vernetzung wichtig, um zu sehen, dass sich die Kämpfe um Gedenken und es zu verändern in vielen Städten auch ähneln. Und dass wir davon lernen können – zum Beispiel von der Familie Arslan, die nach dem Brandanschlag in Mölln schon seit über 30 Jahren dafür kämpft.
Was ist die Vision für das Tekiez der Zukunft?
Das Ziel war einmal, den Ort als migrantischen Gastronomiebetrieb zu erhalten – also als das, was angegriffen wurde. Es gibt immerfort Bedauern und auch Wut darüber, dass das nicht gelungen ist. Jetzt geht es darum, dass dieser Ort langfristig erhalten bleiben kann. Das größte Ziel ist, dass so etwas nicht mehr passiert; dass es keine Eltern mehr gibt, die um ihre Kinder trauern. Darum machen İsmet Tekin und ich immer mehr Workshops mit Jugendgruppen zur Aufklärung und Bildungsarbeit über rechte Gewalt und versuchen auch insgesamt mit Aktivitäten im Tekiez zu zeigen, wie eine solidarische Gesellschaft aussehen kann.
Uns ist wichtig, dass es noch immer ein Ort ist, wo es eine Küche gibt, wo immer schon gegessen wurde. Darum machen wir regelmäßig Veranstaltungen, wo Leute beim Essen noch mal anders zusammenkommen. Es ist sehr bewegend, wie viele Leute dann kommen und welche anderen Formen des Gedenkens dadurch entstehen.
Bei aller Trauer und Wut darüber, dass der Ort nicht in seinem Ursprung erhalten bleiben kann – im Kern bleibt er dann doch unberührt.
Die letzten vier Jahre waren İsmet und Rıfat Tekin im Grunde allein dafür verantwortlich. Nun ist das wichtigste Ziel, die Verantwortung für diesen Raum in eine gesellschaftliche zu übertragen. Es sollte nicht mehr an dem Einzelengagement von Überlebenden hängen, dass so ein Raum erhalten bleibt. Es sollte zur öffentlichen Aufgabe werden.
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