Vierter Band „Sexualität und Wahrheit“: Foucaults Kampf um das Begehren
Es ist eine philosophische Sensation: Über dreißig Jahre nach Foucaults Tod ist nun Band vier seiner „Geschichte der Sexualität“ erschienen.
Selten haben Leserinnen und Leser so lange auf ein wissenschaftliches Buch warten müssen: Als der damals schon weltberühmte Philosoph und Historiker Michel Foucault an Aids starb, waren der zweite und dritte Band seiner „Geschichte der Sexualität“ gerade erschienen. Man las sie wie sein Vermächtnis zur Frage von Subjektivität, Selbstsein und Körperlichkeit und staunte über die Freizügigkeit, mit der er sich über seinen Plan zu diesem Projekt hinweggesetzt hatte.
Denn der erste Teil, „Der Wille zum Wissen“, hatte 1976 noch eine sechsbändige Geschichte der modernen Erfahrung und Regulierung der Sexualität vom 16. bis ins 19. Jahrhundert angekündigt. Erklärtes Ziel war die Kartografierung der seltsamen Beunruhigung der modernen Gesellschaft angesichts der Geschlechtsnatur und des menschlichen Begehrens, angefangen beim spätmittelalterlichen Geständniszwang in der Beichte bis hin zur Therapiekultur der Nachkriegszeit. Aber der Autor durchkreuzte seine Pläne selbst. Um sich nicht zu langweilen und aus Gründen der historischen Tiefe habe er sich, wie er in einem seiner letzten Interviews sagte, stattdessen dazu entschieden, „zurückzugehen: ins 5. Jahrhundert zunächst, um die Anfänge der christlichen Erfahrung zu sehen; und dann in die unmittelbar vorausgehende Periode am Ende der Antike“.
Bald wurde bekannt, dass die beiden letzten Bände zu Antike und Spätantike, „Der Gebrauch der Lüste“ und „Die Sorge um sich“, die fast unmittelbar Debatten um das Erbe der antiken Lebenskunst und eine heutige Ästhetik der Existenz auslösten, nicht im strengen Sinne das letzte Wort Foucaults waren. Es sollte noch ein schon fast vollendeter weiterer Band existieren, vor den anderen beiden fast fertiggestellt, weggeschlossen im Banksafe der Nachlassverwalter, die sich an die lapidare testamentarische Anweisung „Keine posthumen Veröffentlichungen“ gebunden fühlten. Nur wenige Vertraute hatten das Manuskript zu sehen bekommen, einige kleinere Schriften gaben Hinweise, doch blieb das Buch nicht mehr als ein Gerücht. Man darf es eine philosophiegeschichtliche Sensation nennen, dass dieser vierte Band unter dem Titel „Les aveux de la chair“ („Das Geständnis des Fleisches“) vor wenigen Tagen bei Gallimard erschienen ist. Denn hiermit vervollständigt sich ein hochkomplexes Projekt, das auch heute nichts von seiner Originalität und erschließenden Kraft eingebüßt hat.
Die Rolle des Frühchristentums
Das Buch füllt die historische Lücke zwischen den in den Vorgängerbänden behandelten Etappen. Foucault richtet den Blick auf die Rolle des Frühchristentums in der allmählichen Umformung und Aneignung der antiken Sexualmoral, von der er bereits gezeigt hatte, dass sie zentral ist für das Verständnis der antiken Ethik im Ganzen. Wie sich der Einzelne zu den eigenen Lüsten verhält, wie sich darin soziale Rolle und Freiheit zur Selbstgestaltung ausdrücken und welchen Grenzen diese Freiheitsgrade unterliegen, waren entscheidende Themen der antiken Texte zur richtigen Lebensführung.
In Interviews Anfang der 1980er Jahre hatte sich Foucault beeindruckt gezeigt von dem Willen zur Selbstgestaltung in dieser Ethik. Dafür bekam er den Vorwurf einer unkritischen Verklärung des viril-machtvollen Selbstverständnisses einer privilegierten Schicht. Dabei wirken die historischen Bücher denkbar nüchtern, fast dokumentarisch, und machen kaum Angebote zum Brückenschlag in die Gegenwart.
Die „Geständnisse des Fleisches“ sind nun in der vorliegenden Fassung ein ähnlich archivbesessenes, sprödes Buch mit einem maximal spezialisierten Gegenstand. Foucault verfolgt die Spur der ethischen Problematisierung des Geschlechtslebens in den ersten frühchristlichen Jahrhunderten und liest die Texte der frühen Kirchenväter als Dokumente einer Sorge um das Seelenheil und als Zeugnisse der Herausbildung einer neuen, spezifisch christlichen Moral.
Zunächst überraschen ihn die Ähnlichkeiten zu den vorchristlichen Sitten. Viele der expliziten Vorschriften und Verbote bleiben bestehen, die meisten moralischen Prinzipien werden übernommen. Die sich allmählich abzeichnenden Veränderungen liegen auf einer anderen Ebene und betreffen eher den Modus der Thematisierung und Problematisierung als die ausdrückliche Regulierung von Handlungen.
Fortpflanzung als Schöpfungsauftrag
Von enormer Bedeutung hierfür sind in seinen Quellen die ehelichen Beziehungen sowie der Status von Geschlechtlichkeit und Begehren. Hier zeichnen sich neue Analogien und Schemata ab – der Körper als Tempel Gottes, Enthaltsamkeit als Nachfolge Christi, Fortpflanzung als Schöpfungsauftrag –, in denen das noch junge Verhältnis zwischen mönchischer und Laien-Lebensform aufscheint und in denen sich das begehrende, potenziell sündige „Fleisch“ als neuer Gegenstand der Sorge herausbildet.
Michel Foucault: „Histoire de la sexualité 4: Les aveux de la chair“. Hg. v. Frédéric Gros, Gallimard 2018, 440 S., 24 Euro (im Frühjahr 2019 bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung).
Bei Augustinus erkennt Foucault den Entwurf einer vollständigen „Ökonomie der Begierde in der Ehe“, die mit biblischen Verweisen gerechtfertigt wird. Der wichtigste der frühen Kirchenväter legt nahe, dass im Begehren eine Tendenz zum Exzess liegt, die in Schach gehalten werden muss wie etwas Fremdes und Gefährdendes in der Natur des Menschen selbst, weswegen klare Grenzen und Kodifizierungen erforderlich sind.
In dieser spezifischen kulturellen Form des sich skeptisch befragenden, sich selbst richtenden Begehrenssubjekts sieht Foucault eine, vielleicht die bleibende christliche Prägung in der westlichen Geschichte der Erfahrung der Sexualität. Hier schließt sich der Bogen. Denn genau an dieser Stelle, an diesem bei aller Modernisierung und Liberalisierung unabgegoltenen Motiv im Herzen der westlichen Zivilisation, hatte seine beißende Kritik an den wissenschaftlichen und sozialen Institutionen der Moderne in den vorhergehenden Büchern, besonders in „Überwachen und Strafen“ und „Der Wille zum Wissen“ angesetzt.
Die bleibende Lektion
Hat sich das Warten gelohnt? Dieser vierte Band einer umfassenden „Geschichte der Sexualität“ ist weniger zugänglich und auch weniger einnehmend als andere von Foucaults stilistisch und im Argumentationsbogen anspruchsvollere Monografien. Kein Verweis auf die Gegenwart, keine Fußnote zu Bezügen jenseits der Primärquellen unterbricht die beharrliche Nachzeichnung von Denkfiguren, Argumenten und Vorschriften des frühen Christentums. Doch mit etwas Abstand fällt auf, was bei diesen im Detail oft skurrilen theologischen Konstruktionen methodisch und systematisch auf dem Spiel steht.
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Foucault geht es um nichts weniger als um eine immanente Nachzeichnung der Entstehung einer normativen Ordnung. Er stürzt sich so tief in die Quellen, um zu zeigen, wie sich eine neue Ethik formt, aus welchen älteren Elementen, mit welchen Unterstellungen bezüglich des Wichtigen und Gefährlichen und mit welchen Zuschreibungen an diejenigen, die sich dieser Ordnung zu fügen haben.
Bei und nach Foucault steht das Wort „Subjekt“ für genau diese Instanz. Die bleibende Lektion seiner historischen Arbeiten ist es, gezeigt zu haben, dass dies für unterschiedliche Epochen und unterschiedliche Gesellschaften radikal Unterschiedliches bedeuten konnte, dass es unzählige Subjektstile, Subjektformen und Subjektgrenzen gibt und sich eine Gesellschaft nicht zuletzt darüber reguliert, wie sie ihre Mitglieder beschreibt, verwaltet und leben lässt und was sie als die innere Wahrheit dieser Subjekt behauptet. Dies nachzuzeichnen erfordert historische Einzelstudien zu moralischen Erfahrungen, denn diese markieren solche Freisetzungen und Begrenzungen.
Was Foucault im Titel seines Projekts „Sexualität“ nennt, ist alles andere als die selbstverständliche Gegebenheit einer ewigen menschlichen Natur, sie ist Ergebnis einer Erfahrung im Schnittpunkt von hochspezifischen Deutungen, Regulierungen und Selbstverständnissen. Das gelebte Verhältnis von Körper und Norm, Begehren und Selbst ist selbst nichts Natürliches, sondern Ergebnis von Kämpfen um die Wahrheit der menschlichen Natur.
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