Vier Geschichten zu Stuttgart 21: Etabliert, doch renitent
Der Protest hat viele Gesichter: Etwa der Unternehmer Ulrich Weitz, der Starkoch Vincent Klink, der Musiker Thorsten Puttenat oder die Kuratorin Regina Fasshauer. Eine Nahaufnahme
STUTTGART taz | Wegen des strömenden Regens müsste Thorsten Puttenats Stimmung auf dem Schlossplatz eigentlich getrübt sein. Fast ein Jahr nimmt er jetzt schon an den Protesten gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 teil. Und es sieht nicht so aus, als würden die Demonstrationen nachlassen. An diesem nasskalten Samstagnachmittag sind zusammen mit Puttenat etwa 25.000 Demonstranten auf den Beinen. Wieder und wieder skandiert die Menge "Mappus raus", "Lügenpack" oder "Oben bleiben", dass die Erde bebt.
Doch Puttenat ist trotz Nässe bester Laune. Erleichtert zeigt er eine SMS. Die Nachricht kommt von einem der führenden Pro-S-21-Aktivisten. Auch sie stimmen zu, dass "Flügel TV" die Schlichtungsgespräche live übertragen darf.
"Flügel TV" heißt das Internetfernsehen, das Thorsten Puttenat mit Freunden betreibt. Es hat die Medienlandschaft verändert. Alle Protestaktionen gegen S 21 werden von der Plattform im Netz übertragen. All das mit einem Equipment, das in einen Bollerwagen passt. 180.000 Zugriffe hat die Seite allein in den letzten zwei Monaten verzeichnet. Mit Folgen: Als der Stuttgarter OB Wolfgang Schuster vor Kurzem in der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile eine "Plaza de Stuttgart" eingeweiht hat, riefen ihm Demonstranten "Oben bleiben" entgegen.
Puttenat, den alle nur "Putte" nennen, ist wie viele, die gegen S 21 sind, gut vernetzt. Er setzt moderne Kommunikationstechnik massenwirksam ein. Auf seiner Facebook-Seite verlinkt er jeden neuen Artikel über S 21. Selbst die New York Times war inzwischen da, wie er nicht ohne Stolz verkündet. Längst gehe es in Stuttgart aber um mehr als bloß den Bahnhof, sagt er. Es gehe um das Vertrauen, das die Politik durch die Bankenkrise bei den Bürgern verspielt und nicht wieder zurückgewonnen habe.
Es gehe um die Vermittlung von Recht und Gesetz, an der sich grundsätzlich etwas ändern müsse, findet der 36-Jährige, der Musik für Filme und Theater komponiert und sich links von der Mitte verortet. Auf die Frage, ob er ein Fortschrittsfeind sei, antwortet Putte nachdenklich: "Der Alltag ist doch ohnehin rasend schnell, mir fallen da die vielen Hochqualifizierten mit Burnout-Syndrom ein. Warum soll man jetzt auch noch 15 Minuten früher in Ulm sein?"
Vincent Klink, Konservativer mit grünem Herzen
Das sieht der Starkoch Vincent Klink ganz ähnlich, obwohl er meilenweit von Puttes Lebenswelt entfernt ist. Klink kocht im Fernsehen im Programm des SWF und bewirtet ein gehobenes Publikum in seinem auf Halbhöhe gelegenen Restaurant Wielandshöhe im Stuttgarter Stadtteil Degerloch.
Der 61-Jährige ist wütend. Wütend auf die CDU-Politiker und wütend auf den Bahnchef Rüdiger Grube, dem er Inkompetenz vorwirft. "Wichtig ist doch, wie es sich in einer Stadt lebt, kulturell gesehen. Paris ist für mich die schönste Stadt der Welt, aber was für Bahnhöfe es dort gibt, spielt dabei überhaupt keine Rolle." Der 61-Jährige bezeichnet sich als CDU-Sympathisanten mit grünem Herzen. Parteipolitisch könne er sich momentan nirgendwo einfinden.
Der Bahncardinhaber berichtet, dass die Züge seit Langem nur mit 13 Stundenkilometern in den Bahnhof einfahren dürfen, weil Gleise und Weichen marode sind. Klink erzählt von dem Mineralwasservorkommen in den Felsen rund um den Stuttgarter Talkessel. Dort 33 Kilometer Tunnel voranzutreiben, sagt der Starkoch, berge so viele ungeahnte Risiken wie ein U-Bahn-Bau durch die Lagunen von Venedig.
Klink ist katholisch, man sieht dem Barockmenschen die Lebenslust an. Anhand von Friedrich Schiller erklärt er schwäbischen Widerspruchsgeist und protestantische Renitenz, die ihm erst mit den Protesten richtig bewusst geworden seien. Ob die Stuttgarter nicht einfach zu geizig seien für einen modernen Bahnhof?
"Das Geld ist dem Schwaben ziemlich egal, aber der Gegenwert, den er dafür kriegt, der ist ihm nicht egal." Dass die Pläne für den Neubau noch aus dem letzten Jahrtausend stammen, bringt Klink auf die Palme. "Veraltet!", schimpft er. Auch ästhetisch sei der Entwurf Murks und viel zu teuer. "Aber bald haben wir ja gar kein Geld mehr vor lauter Prestige."
Ebenbild einer Schwäbin
Vincent Klink hängt an dem alten Stuttgarter Bahnhofsgebäude von Paul Bonatz aus dem Jahr 1928. Das tut Regina Fasshauer nicht. Die 34-jährige Kuratorin und studierte Kunsthistorikerin empfindet das 82 Jahre alte Bauwerk als "Monumentalarchitektur".
Auch der geplante Neubau kommt Fasshauer, die am Künstlerhaus Stuttgart arbeitet, überdimensioniert vor. Geeigneter fände sie eine maßvolle Renovierung des bestehenden Kopfbahnhofs. Wir treffen uns in einem Café, das Fasshauer ausgesucht hat, weil statt eines Namens das durchgestrichene S-21-Signet auf der Fassade prangt.
Die Kunsthistorikerin ist das Ebenbild einer bedächtigen Schwäbin. Vorsichtig fragt sie, wie es denn in Berlin um die Abneigung gegen Schwaben bestellt sei? In der Heimat hätte sich vieles zum Positiven verändert. Durch die Proteste sei Stuttgart eine ganz andere Stadt geworden, die Lethargie sei gewichen. Regina Fasshauer sagt, sie sei "eher unpolitisch", habe aber einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Die Verantwortlichen hätten in der S-21-Sache komplett versagt.
Deshalb tritt sie jeden Abend um 19 Uhr auf ihren Balkon, um eine Minute lang mit der Gartenschere gegen ihre gusseiserne Gießkanne zu donnern. Das ist Teil des sogenannten Schwabenstreichs, der seit 28. Juli täglich stattfindet. Autofahrer hupen, Menschen machen auf der Straße Lärm, um so auf fast südamerikanische Weise ihren Protest gegen S 21 zum Ausdruck zu bringen.
Reiseunternehmer Weitz beschützt den Zaun
Am Bauzaun vor dem abgerissenen Bahnhofsnordflügel ist am frühen Samstagabend Ulrich Weitz postiert. Der Reiseunternehmer mit "Parkschützer"-Button veranstaltet kostenlose Führungen, um über die vielen Karikaturen und Parolen, die am Bauzaun hängen, aufzuklären. Damit beschützt Weitz den Zaun vor S-21-Befürwortern, die immer wieder androhen, die kreativen Machwerke mit Pro-S-21-Slogans zu überkleben.
Der 60-Jährige kommt mit vielen Passanten in Berührung. Reisende, die auf eine Zigarettenlänge vor den Bahnhof treten, Shopping-Kunden, die Weitz in Gespräche verwickelt. Es ist erstaunlich, wie intensiv an diesem frühen Abend Argumente ausgetauscht werden, meist relativ zivilisiert. Inzwischen kann man die Führungen am Bauzaun auch im Internet buchen.
Weitz ist ein klassischer Protestlinker. Aktiv in einer Bürgerinitiative gegen Atomenergie, in den frühen Siebzigern an der Uni auch in einer linken Splittergruppe im Asta. "Das gehört zu meiner Vergangenheit", sagt er und lobt die Vielfalt der Proteste.
Er berichtet von Rentnerinnen, die Guerilla Gardening am zentralen Busbahnhof betreiben, und von seiner Familie, die durch die Ereignisse richtig zusammengeschweißt worden sei. Wie bestellt taucht plötzlich sein Schwager auf, ein kugelrundes Fass mit FC-Sankt-Pauli-Fanmütze, der stolz von seinem SPD-Kreisverband erzählt, in dem sich "80 Prozent gegen Stuttgart 21" ausgesprochen hätten.
Später am Abend lehnt Putte entspannt am Tresen in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon am Stuttgarter Nordbahnhof. Dort findet ein Konzert statt, ein Italiener mit Robotermaske spielt Acidfolksongs und manipuliert die Musik clever mit seinen Effektgeräten.
Viele Gäste tragen das durchgestrichene S-21-Button. Die Waggons am Nordbahnhof sind der bevorzugte Ort der alternativen Musikszene. Künstler haben dort Ateliers. Es ist ein Stück Alternativkultur, das jeder Großstadt gut zu Gesicht steht. Die Kommune hat das Treiben geduldet und immer wieder Verträge verlängert. Puttes Freund, der 36-jährige Künstler und Waggon-Betreiber Moritz Finkbeiner, zeigt ein Handyvideo, auf dem zu sehen ist, wie er bei der Demonstration 30. September von einem Wasserwerfer umgepustet wird.
"Wenn sich die Polizei bedroht fühlt", sagt Finkbeiner, "darf sie den Strahl auf 20 Millibar erhöhen, dann wird's für Menschen gefährlich." Auch die Existenz der Waggons ist in Gefahr. In einer späteren Phase der Bauarbeiten sollen pro Tag 240 Lkw-Ladungen mit Bauschutt und Aushub am Nordbahnhof in große Eisenbahnwaggons verladen werden.
So genau mag sich das keiner der Anwesenden ausmalen. "In den Neunzigern wurde schon mal eine Musikszene aus Stuttgart vertrieben", erzählt Finkbeiner, dessen Gastfreundschaft sich bei Folk- und Psychedelicbands in der ganzen Welt herumgesprochen hat. "Rapper von Fanta Vier, über Freundeskreis bis Massive Töne, leben heute in Hamburg und Berlin.
In Stuttgart zählt Popmusik nichts. So viel zum Thema Fortschrittsfeindlichkeit", sagt Finkbeiner. Ob er aus Stuttgart weggeht, wenn es die Waggons nicht mehr gibt, weiß er noch nicht. Aber seine Mutter hat den Chiropraktiker gewechselt, weil der sich als Befürworter von S 21 geoutet hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Analyse der US-Wahl
Illiberalismus zeigt sein autoritäres Gesicht