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Video der WocheFeiert die spätrömische Dekadenz!

2.-Mai-Demo in Berlin. 2. Mai? Ja, eine Autorengruppe ruft zum Kampftag der Arbeitslosen auf. Am Verkündigungsplatz betet eine Protestgruppe wider die Arbeit.

Hedonistische Protestgruppe: Feiertag der Arbeitslosen am 2. Mai in Berlin. Bild: Screenshot Youtube

Tröööööt! Langsam setzt sich eine kleine hedonistische Protesttruppe unter dem Motto "Wir haben Zeit!" im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg in Bewegung. Ein Polizist auf einem Motorrad führt die Demonstrierenden an. Der Sprecher und das Protestgefolge schleichen dem Megafon-Sprecher in zustimmender Haltung hinterher.

Aus den Lautsprechern des Begleitfahrzeugs tönt eine kräftige Stimme: "Die euphemistische Gleichsetzung von Hartz IV-Beziehern und römischer Oberschicht lässt tief in die wahn-verzerrte Vorstellungswelt des FDP-Politikers blicken." So beschwert man sich über die Aussagen Guido Westerwelles zu den Hartz-IV-Sätzen.

Seit sechs Jahren demonstriert eine kleine Menschentraube am 2. Mai in Berlin gegen den Zwang zur Lohnarbeit. Sie rufen zum gemeinsamen Protest wider die Arbeit auf: Künstler, die lieber ihrem kreativen Schaffen nachgehen möchten, sind ebenso mit von der Partie wie Eltern, die sich ihren Kindern mehr verpflichtet fühlen als ihrer Arbeit. Aber auch Menschen, die einfach nicht von der Lohnarbeit überzeugt sind, weil Maschinen das viel besser könnten und der Arbeitsmarkt nicht genug Platz biete, fühlen sich bei der Demo gut aufgehoben.

Zynisch führt der Verkünder weiter aus: "Hartz IV-Empfänger feiern Orgien im Stil der spätrömischen Patrizier und speisen zum Frühstück Austern und Kammmuscheln."

Das Video ...

Mit provokanten Hedonisten-Schildern wie "Einen Tag im Leben als Heuschrecke mach ich", "Urlaub für alle", "Arbeit stinkt", "Maschine arbeitet, ich genieße" verkündet die gesellige Truppe ihren Unmut über die Leistungsgesellschaft. Sprechchöre jubeln den Protagonisten zu, lassen sich dann aber auch nicht aus der Ruhe bringen und ziehen ihr Programm nach Plan durch.

Die Kundgebungen erinnern einerseits an hedonistische Veranstaltungen, andererseits weisen die Freizeit-Forderungen auch inhaltliche Berührungspunkte mit der Anarchistischen Pogo-Partei Deutschlands (APPD) auf. In ihrem Grundsatzprogramm verpflichtet sich die APPD allen gescheiterten Existenzen, fordert eine lustvolle Umgestaltung der Gesellschaft und tritt für das Recht auf Arbeitslosigkeit ein.

Die Surfpoeten

Die Berliner Autorengruppe "Die Surfpoeten" sind die Protagonisten des Geschehens. Ironischerweise kündigen sie die kleine Versammlung mit weniger als 500 Leuten auf ihrer Webseite als "Großdemo" an: Vom Senefelder Platz bis zu den Schönhauser Allee Arcaden und zurück planten die Autoren Spider und Ahne die kleine Protestreise durch Berlins Mitte.

In Erinnerung an den 2007 verstorbenen Surfpoeten Michael Stein wird "Das Gebet wider die Arbeit" von den Demo-Aktivisten traditionell als Kundgebung im Sprechchor vorgetragen. Michael Stein war überzeugt, dass Arbeitslosigkeit in der Gesellschaft als selbstverständlich gelten und jedem Menschen eigentlich ein Bedürfnis sein müsse. In diesem Zusammenhang verfasste der Berliner Autor 1998 das Gebet gegen die Arbeit. Traditionell sprach er das Gebet bei seinen Auftritten gemeinsam mit dem Publikum.

Der Gedanke, dass "Arbeit für alle" keine zeitgemäße Forderung mehr sei, ist auch fester argumentativer Bestandteil der Anti-Arbeits-Demo. Die Wirkungsweise des Gebets, die beim gemeinsamen Vortragen entstehe, könne ein morphisches Feld erzeugen, welches später andere Menschen erfassen kann. Beim gleichzeitigen Sprechen eines Texts werden auch die Worte verinnerlicht, so könne ein kräftiges Feld erzeugt werden, so erklärte Stein seine Theorie.

Die literarische Subkultur im Berliner Osten ist eine junge Generation von Autoren und Vorlesern. Die Dichter präsentieren ihre während der Woche verfasste Prosa auf den Bühnen Berliner Clubs und in den Medien. Themen sind Geschichten aus dem Alltag, Selbsterlerntes und Selbsterfahrenes. Das Urgestein Ahne alias Arne Seidel gibt seine neuesten Zwiegespräche jeden Mittwochabend bei dem Radiosender radioeins zum besten und erfreut sich seiner zunehmenden Bekanntheit.

Stein und Ahne gehören zu den Gründern der Surfpoeten. Steins Gebet gegen die Arbeit wurde zum festen Bestandteil jeder Veranstaltung der Surfpoeten.

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6 Kommentare

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  • TA
    Tom Ate

    Ist das Ganze als eine Parodie auf das Leben eines Arbeitslosen zu verstehen, oder meinen die das ernst?!

     

    Alles was die auf der Demonstration tun, lässt sich doch darauf beschränken, sich auf der Dummheit von Herrn Westerwelle und seiner Formulierung auszuruhen. (Haha, ausruhen. Ein Brüller)

     

    Wenn wir doch nur alle auf diese Zukunftsweisenden Menschen hören würden und einfach mehr Roboter bauen würden, damit niemand mehr arbeiten muss und alle pausenlos Urlaub haben, schön!

  • F
    fuckyourworkethic

    Endlich. Und mehr von sowas. Zeitarbeiter_innen, Arbeitslose, Praktikant_innen, Sebstausbeuter_innen, andere Prekäre sollten endlich aufhören sich einreden zu lassen das sie sich nicht organisieren können. Es gibt übergreifende, radikale Gewerkschaften, etwa die FAU. Es gibt die Gelegenheit selber Gruppen zu gründen. Wenn wir wirklich wollen das die Ausbeutung, die Schikane, der Druck und der Zwang enden ... Kapitalismus abschaffen, Staat und Firmen enteignen, internationalistische Selbstorganisation. Wir sind viele, wir werden stündlich mehr. Und wir werden gewinnen. :)

  • S
    Schulz

    O Gott, man gibt mir keine Arbeit mit Einkommen,

    um zu leben...

     

    wie lautet gleich das Gebet?

     

    Suche ordentliche Wohnung, um andere einzuladen,

    selbst zu leben, ... und vom Staat bezahlt

    oder zubezahlt!

     

    Inmitten von aller Art von Infrastruktur!

     

    Habe die Schule mit 1,11 abgeschlossen,

    Sport war das schlechteste Fach,

    weil mit Abbruch-Olympioniken .... belehrt.

    Die hatten niemals den Ehrgeiz, die Geduld

    und... sowieso kann nicht jeder das.

  • FH
    Falko Hennig

    Es ist ja erfreulich, dass die Demonstration mit einem Artikel gewürdigt wird, aber das Anliegen der Veranstalter und somit Thema wird verfehlt. Sie propagieren keine egoistische Lebensweise, wie der Begriff "hedonistisch" suggeriert. Es geht um seriöse Alternativen zur Vollbeschäftigung, die als Lippenbekenntnis verschiedener Politiker seit den 1970er Jahren unglaubwürdig ist.

  • BR
    Buck Rogers

    In Deutschland besteht kein Zwang zur Lohnarbeit. Es steht jedem frei, sich als Selbständiger seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Natürlich hat das Verhalten diser Personen wenig mit spätrömischer Dekadenz (eigentlich spätrepublikanische Dekadenz, eine Art Frustreaktion einiger römischer Optimaten)zu tun. Eher mit dem Verhalten von Teilen der römischen Plebs, die dank der Freigiebigkeit der Leistungsträger keinen Finger rührten und nur einmal im Jahr ihre Stimme an den Meistbietenden verkauften.

  • H
    Herzmann

    Ja, seit 300 Jahren haben wir eine Maschine nach der anderen gebaut, die uns die schwere Arbeit abnehmen sollen.

    Nun ist es soweit, und wir sollten uns darüber freuen.

    Leider haben selbst die Linken das noch nicht kapiert.

    2 Stunden sinnvolle Arbeit am Tag, gerecht verteilt, müssten mittlerweile ausreichen.

    Ja, und der Gewinn der Maschinen muß natürlich auch gerecht verteilt werden, z.B. als Grundeinkommen.