Video der Woche: Kein Wintermärchen
Obdachlose werden zunehmend aus dem öffentlichen Raum vertrieben. Der Verdrängung aus dem Blickfeld folgt die Verdrängung aus dem Bewusstsein.
Die Verteibung der Obdachlosen aus den Zentren der Städte hat eine lange Geschichte. Grundlage der neuesten Verdrängungswelle seit Mitte der 90er ist die Broken-Windows-Theorie. Deren Autoren James Wilson und George Kelling machen keinen Hehl daraus, dass es darum geht, „antößiges Verhalten“ zu UxCdWbOA5qwJ:www.htw-saarland.de/sowi/Studium/studienangebot/sozialpaedagogik/materialien-sp-16-28-abweichendes-verhalten-und-gesellschaftliche-reaktion/wilson-kelling-polizei-und-nachbarschaftssicherheit-zerbrochene-fenster+&cd=1&hl=en&ct=clnk&gl=de&client=firefox-a:kriminalisieren, auch dann, wenn dabei kein anderer zu Schaden kommt.
Damit ist aus dem Kampf gegen Armut ein Kampf gegen Arme geworden. Und dass, obwohl die Broken-Windows-Theorie wissenschaftlich auf dünnen Stelzen steht: obwohl so beliebt, lassen sich kaum Studien finden, die einen direkten Zusammenhang zwischen Anwendung und Kriminalitätsrückgang vermuten lassen. Was regelmäßig steigt, ist das subjektive Sicherheitsempfinden. Es ist eine Sicherheit für den Augenschein – also Ideologie.
Die Konzepte gehen Hand in Hand mit der Privatisierung öffentlicher Orte. Der Verdrängung aus dem Blickfeld folgt die Verdrängung aus dem Bewusstsein. Es ist einfacher, unliebsame Personen per Hausverbot zu vertreiben, weil man dazu keine rechtliche Handhabe braucht, sondern nur einen privaten Sicherheitsdienst - eine Taktik, die gerade in Hamburg Anwendung findet.
Eines ihrer Opfer ist Klaus Treibe, 71, der jüngst aus dem Bahnhof geworfen wurde und prompt vor die Kamera des politischen Aktivisten Ulli Gehner lief. Gehner nahm gerade an einer Demo für mehr Obdachlosenunterkünfte teil und den Wutausbruch des Vertriebenen.
Empfohlener externer Inhalt
Die Notunterkünfte sind heillos überbelegt
Der Hamburger Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) verweist generell die Obdachlosen der Stadt auf die Notunterkünfte, die aber sind heillos überbelegt, wie das Obdachlosenmagazin Hinz&Kunzt öffentlich macht. Auch in Berlin gibt es Engpässe.
Eben jene Öffentlichkeit, die Obdachlosigkeit durch Vertreibung und Verdrängung nicht mehr hat, wird inzwischen im Netz hergestellt – bekanntestes Beispiel ist die Geschichte von Ted Williams, dem Mann mit der goldenen Stimme. Der hatte, nachdem dieses Video über ihn viral im Netz kursierte, Job und Heim gefunden; ein modernes Märchen, wie sie Talentshows gerne erzählen, wenn die Hitze des Rampenlichts die soziale Kälte ausgleicht.
Klaus Triebe wird nicht vom Showbiz vereinnahmt werden. Seine Geschichte wird auf ganz andere Weise absorbiert, durch das Wohlmeinen des Gesprächspartners nämlich. Während er zu Beginn noch ins Erzählen kommt und seinem Frust, seinem Ärger Ausdruck gibt, liefert er später nur noch die Anknüpfungspunkte für eine Fortführung seiner Geschichte: seinen Namen, seine Adresse, alles was nötig ist, damit von jetzt an ein Anwalt den Vorgang fortschreibt. Man sieht hier in aller Kürze einen Entmündigungsvorgang, der zwar das Beste will und doch hat Klaus Triebe am Ende dem Sicherheitsdienst mehr erzählt als dem Helfer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu