: Verweigern will gelernt sein
Der neue Wehrdienst lässt die Nachfrage nach Tipps wachsen, wie man ihn umgeht. Der Besuch bei einem Berater:innen-Lehrgang der Deutschen Friedensgesellschaft zeigt: eine konkrete Anleitung gibt es nicht
Aus Dortmund Adrian Breitling
Angst allein ist kein guter Ratgeber, das muss selbst Joachim Schramm in diesen Tagen oft erklären. Er leitet die Landesgeschäftsstelle der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner:innen (DFG-VK) in Nordrhein-Westfalen. Schramm unterstützt sowohl angehende Berater:innen als auch Menschen, die im Ernstfall nicht kämpfen wollen. Und ja: Allein die Angst vor dem Krieg reicht dafür nicht, so verständlich sie auch ist. „Das müssen die jungen Leute verstehen“, sagt er.
An einem Sonntagnachmittag Ende November sitzt Schramm zusammen mit 14 Neu-Berater:innen unter dem Dach eines Altbaus im Dortmunder Norden. Das Haus beherbergt viele linke Projekte. Es ist die zweite Schulung dieser Art, bei der Schramm die Teilnehmenden darauf vorbereitet, junge Menschen zum Thema Wehrdienst zu beraten. Die Zahl der Verweigerer stieg in den letzten Jahren stetig an, zuletzt auf 3.034 – ein Rekord seit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011. Auch die Beratungsstellen spüren den Anstieg und bilden zusätzliche Berater:innen aus. Der Bedarf dürfte weiter großer werden.
Grund dafür ist das Anfang Dezember verabschiedete Wehrdienstgesetz. Es betrifft alle jungen Männer ab Jahrgang 2008. Sie müssen einen Fragebogen ausfüllen, sich mustern lassen und angeben, wie sie zum Wehrdienst stehen. Für viele wird es vermutlich das erste Mal sein, dass sie sich diese Frage stellen. Verweigerung als prägende Erfahrung
Die Gruppe erinnert sich daran, wie es damals bei ihnen war. „Früher haben in meinem Bekanntenkreis alle Männer verweigert“, sagt eine Frau, die mit 13 anderen angehenden Berater:innen der DFG-VK in dem kleinen Raum sitzt. „Oder sie sind nach Westberlin abgehauen. “ Auch Schramm hat verweigert, Ende der 1970er Jahre. Nach seiner eigenen Beratung wurde er schnell selbst Berater.
Früher wie heute können sich alle, die nicht zur Bundeswehr wollen, auf den Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetztes berufen. Darin steht: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Dieser Satz bildet die Grundlage für die Begründungsschreiben, in denen junge Männer ihre Verweigerung erklären.
Für viele war die Verweigerung eine prägende Erfahrung. Das zeigt sich auch im Schulungsraum. Ein Mann erinnert sich nach über 40 Jahren noch an die Namen der Prüfer, die ihm damals gegenübersaßen. Er überzeugte sie – wie die meisten anderen im Raum. Die einzigen, die hier nicht verweigerten, sind Frauen.
An diesen Beispielen zeigt sich, was heute anders ist: Zum einen können auch Frauen die Fragebögen der Bundeswehr ausfüllen und sich mustern lassen, allerdings freiwillig. Zum anderen tritt den modernen Verweigerern kein Mensch mehr gegenüber, alle Kommunikation läuft per Brief. Umso wichtiger ist deswegen ein überzeugendes Begründungsschreiben.
Friedensbewegung bisher kein Thema bei Jungen
Die DFG-VK, das stellt Schramm klar, hat ein Eigeninteresse, das schon im Namen steht. Sie sind Kriegsdienstgegner:innen. Und diese Haltung wollen sie an die jungen Menschen weitertragen.
Schramm beobachtet eine neue Generation, die sich bislang nicht so sehr für Friedensthemen interessiert hat. Klimaschutz und Antifaschismus, das seien die Themen der Zeit. Doch seit Russlands Angriff auf die Ukraine drehe sich der Wind ein wenig: Die Verweigerungszahlen steigen seit 2022 leicht. Mit dem neuen Gesetz, glaubt Schramm, könnte die Friedensbewegung wieder an Bedeutung gewinnen.
Diesen Hintergrund zu kennen, ist für die Berater:innen von morgen wichtig. Denn er bedeutet, dass sich die meisten Beratungssuchenden noch nicht weiter mit dem Wehrdienst beschäftigt haben. Was Schramm beobachtet: „Die Leute sagen oft, dass sie Angst vor dem Tod haben, dabei ist für die Verweigerung viel wichtiger, dass sie Angst vor dem Töten haben.“
Bei allem Verständnis für diese Haltungen ist es also Aufgabe der Berater:innen, ganz neue Gedanken in den jungen Menschen hervorzurufen. Weil ein überzeugendes Begründungsschreiben individuell sein und aus dem Herzen kommen muss, geht das am besten durch Nachfragen. „Ein Beratungsgespräch ist keine Anleitung“, sagt Schramm, sondern ein Dialog.
Dabei geht es um große Fragen wie „Hast du schon einmal eine Gewissensentscheidung getroffen?“ oder „Was fühlst du, wenn du an eine Waffe denkst?“. Gerade für junge Menschen ist das nicht nur ein Test, sondern kann sehr prägend sein. Schramm spricht von einer „Kultur der Verweigerung“, die er und andere früher gelebt hätten und die er nun wiederbeleben möchte.
Dass es vonseiten der jungen Menschen Interesse daran gibt, zeigten zuletzt die Schulstreiks gegen das neue Wehrdienstgesetz. Dafür schwänzten die Schüler:innen den Unterricht – und bewiesen, dass sich die Klimabewegung und die vor Jahrzehnten geborenen Ideen der Kriegsdienstgegner:innen durchaus miteinander verbinden lassen.
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